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Politik

Polen, der "demontierte Rechtsstaat"

17. Juli 2017

Die polnische Regierung habe den Rechtsstaat bisher in kleinen Schritten demontiert. Mit dem neuen Gesetz hat die polnische Regierung "die letzte rechtsstaatliche Scham verloren", sagt die Juristin Anne Sanders.

Polen | Tausende Polen protestieren gegen Justizreform
Warschau: Proteste gegen die JustizreformBild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Die polnische Regierung übernimmt mit einem neuen Gesetz die Kontrolle über den Obersten Gerichtshof des Landes. Die Opposition befürchtet, dass die Gerichte in Zukunft nicht mehr unabhängig arbeiten können. Die Juristin Anne Sanders erklärt, warum Polen einen gefährlichen Weg beschritten hat, und warum die EU da nur zuschauen kann.

DW: Wenn Sie als Juristin auf Polen schauen: Ist das Land noch ein Rechtsstaat?

Anne Sanders: Es ist jedenfalls auf keinem guten Weg. Die polnische Regierung der PiS beißt seit Beginn ihrer Amtszeit immer weiter kleine Stückchen vom Rechtsstaat ab. Aber mit diesem letzten Schritt hat sie die letzte rechtsstaatliche Scham verloren.

Wie genau wird der Rechtsstaat ausgehebelt?

Es fing 2015, als die PiS die Wahl gewonnen hatte, mit Maßnahmen gegen das Verfassungsgericht an. Dort wirkte die PiS stark darauf hin, dass nur noch ihr genehme Richter zu Verfassungsrichtern ernannt wurden. Aber auch das Verfahrensrecht des Verfassungsgerichts hat die Partei reformiert. Das Verfahrensrecht regelt die Art und Weise, wie das Gericht arbeitet. Hier wurden lauter kleine Änderungen vorgenommen, die die Vorgänge schwerfälliger machen und in der Praxis dazu führen, dass das Gericht schlechter arbeitet.

Anne Sanders arbeitet als Expertin für den EuroparatBild: privat

Können Sie ein Beispiel nennen?

Verfahren sollen nur in der Reihenfolge ihres Eingangs bearbeitet werden können. Da könnte man denken, dass die Verfahren geordnet und schnell vonstatten gehen. Es führt aber dazu, dass dringende und kritische Fälle lange liegen bleiben, weil das Gericht mit alten Fällen beschäftigt ist.

Ein anderes Beispiel sind die hohen Quoren, das heißt, ein Gericht kann nur mit sehr großer Mehrheit Entscheidungen treffen. Auch das klingt erstmal nicht so schlecht. Will aber eine Mehrheit der Richter eine Entscheidung der Regierung für verfassungswidrig erklären, dann reichen sehr wenige Richter auf der anderen Seite aus, damit eine solche Entscheidung nicht zustande kommt.

Das vor wenigen Tagen verabschiedete Gesetz betrifft den Nationalen Justiz- oder Richterrat, der auch die Richter für den Obersten Gerichtshof ernennt. Wie wirkt die PiS dort?

Dieser Justizrat ist durch die polnische Verfassung geschützt und soll die Unabhängigkeit der Richter garantieren. Bisher war der Rat eine Art richterliche Selbstverwaltung, die Richter haben gewählt, welche Kollegen sie dort vertreten. Durch das neue Gesetz soll zukünftig das Parlament bestimmen können, wer als Richter in dem Rat sitzt. Das bedeutet, dass der Justizrat zukünftig voller Richter ist, die der PiS wohlgesonnen sind. Damit kann die Partei bestimmen, wer in Polen Richter wird. Aber nicht nur das: Das Gesetz ermächtigt die PiS auch, alle Richter, die bisher in dem Rat sitzen, zu entlassen.

Der Oberste Gerichtshof in Polen: Entscheidet hier bald die Regierung?Bild: imago

Das Argument der PiS ist, die Ernennung von Richtern sei bisher nicht demokratisch. Schließlich sei sie die vom Volk gewählte Partei und sollte deshalb mitbestimmen können. Ist das ein legitimes Gegenargument?

Das ist ein Argument, das die PiS immer wieder bringt. Der Nationale Justizrat ist aber in der polnischen Verfassung vorgesehen. Er hat die Aufgabe, die unabhängige Justiz zu schützen. Das kann bedeuten, dass sich eine richterliche Entscheidung gegen die Entscheidung der Parlamentsmehrheit richtet. Die PiS nimmt den Richtern die Unabhängigkeit und installiert Parteigänger, die ihrer Politik folgen. Das kann nicht sein. Ein Richter darf nicht für eine bestimmte Politik sein. Ein Richter muss die Freiheit haben, auch unbeliebte Entscheidungen treffen zu können.

Wie werden Richter in Deutschland ernannt?

Auf Bundesebene werden die Richter von einem Richterwahlausschuss ernannt. Der besteht aus Parlamentariern und Landesministern, die die Richter wählen, die dann von Justizminister ernannt werden. Sie werden jetzt - zu Recht - sagen, dass die Regierung und das Parlament so noch viel mehr Einfluss haben. Das stimmt tatsächlich. Insofern überrascht es nicht, wenn die polnische Regierung argumentiert, sie mache eine Reform, damit es bei ihnen so wird wie in Deutschland.

Was ist dann der Unterschied zwischen polnischer und deutscher Judikative?

Das System in Deutschland ist ein lange etabliertes, in dem sich Checks and Balances gebildet haben, so dass die Richter unabhängig arbeiten können. Außerdem gibt es in Deutschland etwas, was man eine Kultur der Unabhängigkeit nennen könnte. In Deutschland würde kein Politiker sagen, dass Richter als Parteigänger ihre Urteile im Sinne der Mehrheit fällen sollen; zumindest sind solche Fälle nicht bekannt.

Ein wesentlicher Punkt eines weiteren neuen Gesetzes in Polen ist, dass der Justizminister bestimmen kann, welcher Richter am Obersten Gerichtshof im Amt bleibt. Sowas gibt es in Deutschland wirklich nicht. Trotzdem sollten uns die Entwicklungen in Polen auch in Deutschland selbstkritischer werden lassen. Unser System basiert vielfach auf gewachsenen Strukturen, die aber leicht zerstört werden könnten. Wir sollten uns fragen, wie wir unsere unabhängige Justiz stärken und schützen können.

Justizminister Zbigniew Ziobro bestimmt nicht nur, wer Richter wird, sondern auch, wer keiner mehr sein darfBild: picture alliance/NurPhoto/M. Wlodarczyk

Die Opposition befürchtet, dass die PiS, sitzt sie erstmal im Nationalen Justizrat, die Richter mit der Androhung von Disziplinarverfahren unter Druck setzt und gefügig macht. Ist das Paranoia oder eine berechtigte Angst?

Das halte ich überhaupt nicht für Paranoia. Das Vorgehen der PiS hat sich verschärft. Anfangs waren es kleine Schritte, mit denen der Rechtsstaat ausgehöhlt wurde. Jetzt gibt es ein neues Gesetz, das es sogar erlaubt, Richter aus dem Amt zu entfernen. Deshalb halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Dinge noch schlimmer werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Partei Einfluss auf laufende Verfahren nehmen wird. Ich war am 20. Mai in Polen auf einer Tagung polnischer Juristen, und da haben mir polnische Richter im persönlichen Gespräch gesagt, dass sie fürchten, dass auch Wahlprüfungs- und Parteienfinanzierungsverfahren beeinflusst werden könnten.

Sie meinen, der Oberste Gerichtshof könnte, besetzt mit PiS-treuen Richtern, die nächste Parlamentswahl zugunsten der PiS beeinflussen?

Wie gesagt, das halten die polnischen Richter, mit denen ich gesprochen habe, für denkbar. Es ist aus Sicht der PiS bestimmt schön, sollte es bei der Wahl Unregelmäßigkeiten geben, die überprüft werden müssen, wenn man es mit Gerichten zu tun hat, die der Partei gewogen sind. Das sind natürlich Mutmaßungen, es macht aber deutlich, wie wichtig unabhängige Richter für den gesamten Staatsapparat sind.

Polen ist Mitglied der EU. Kann die Union überhaupt etwas gegen die Aushöhlung des polnischen Rechtsstaates unternehmen?

Wenig. Es gibt das sogenannte Artikel 7-Verfahren, mit dessen Hilfe einem Mitgliedsstaat bei Verstößen bestimmte Rechte entzogen werden können. Die Entziehung von Stimmrechten zum Beispiel setzt allerdings die Einstimmigkeit aller EU-Mitgliedsstaaten über die Frage voraus, ob Polen die rechtsstaatlichen Werte der EU verletzt hat. Polen würde aber wahrscheinlich von Ungarn unterstützt werden. An dieser Stelle wird deutlich, dass die EU auf großen Ideen beruht, aber das wir zur Durchsetzung unserer fundamentalen Werte nur sehr stumpfe Schwerter in der Hand haben.

Anne Sanders ist Juniorprofessorin an der Fakultät für Rechts- und Staatswissenschaften der Universität Bonn. Sie hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesverfassungsgericht gearbeitet und ist immer wieder als Expertin für Fragen der richterlichen Unabhängigkeit für den Europarat tätig. Seit zwei Jahren beschäftigt sie sich mit der Entwicklung der Justiz in Polen.

Das Gespräch führte Julia Vergin.

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