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Polen in der Wehrmacht: Verräter oder Opfer NS-Deutschlands?

Jacek Lepiarz (Danzig/Gdansk)
29. August 2025

Bis zu 450.000 Polen haben im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Wehrmacht gedient. Lange galten sie als Landesverräter - doch die historische Wahrheit ist komplizierter. Das zeigt eine Ausstellung in Danzig.

Zu sehen sind Foto-Porträts junger Männer, die Uniformen der deutschen Wehrmacht tragen
Im Vorraum der Ausstellung "Unsere Jungs" werden Porträts von Polen gezeigt, die in der Wehrmacht dienen musstenBild: Jacek Lepiarz/DW

Wer den ersten Raum der Ausstellung im Rathaus von Danzig/Gdansk betritt, sieht Dutzende Porträtfotos: Junge Männer in Uniformen der deutschen Wehrmacht schauen den Besucher an; manche lächeln, andere sind bitterernst oder sogar traurig. Eigentlich sollten solche Bilder nichts Außergewöhnliches sein, denn zwischen 1939 und 1945 wurden insgesamt 17 Millionen Männer in die Nazi-Armee einberufen. Diese Fotos aber sind besonders: Sie zeigen Bürger des von Deutschland besetzten Polens, die die feldgraue Militäruniform der verhassten Feindesarmee tragen.

Die Ausstellung "Unsere Jungs" - der Titel wurde von einer ähnlichen Ausstellung in Luxemburg übernommen - stellt sich einem unbequemen Tabuthema, das lange verschwiegen und verdrängt wurde: dem Militärdienst von Polen in Adolf Hitlers Armee. "Das waren Menschen von hier, also unsere Jungs. Ihre Familien leben hier, bis heute," erklärte das Danziger Museum.

Rechtskonservative Kreise in Polen reagierten auf die Eröffnung Mitte Juli mit Ablehnung und Empörung. Soldaten des Dritten Reiches als "unsere" darzustellen, sei eine "historische Lüge" und "moralische Provokation", schrieb der damalige Präsident Andrzej Duda auf X. "Die Polen als Nation waren Opfer der deutschen Besatzung und des deutschen Terrors, nicht Täter oder Beteiligte", betonte Duda.

Auch der Chef des rechtskonservativen Lagers in Polen, Jaroslaw Kaczynski, meldete sich zu Wort: Die Ausstellung sei "ein Schlag gegen die polnische Staatsräson und stellt die historischen Fakten in Frage", erklärte der Vorsitzende der Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Vor dem Rathaus von Danzig demonstrierten zur Ausstellungs-Eröffnung PiS-Politiker unter einem Banner mit der Aufschrift "Verräter".

Sogar der Vizepremier und Verteidigungsminister der amtierenden Mitte-Links-Regierung, Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, bemerkte, "Unsere Jungs" diene nicht der polnischen Erinnerungspolitik. Im Internet lief eine Hasswelle gegen die Ausstellungsmacher, so dass die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden mussten.

Zwischentöne statt Schwarz-Weiß-Schema

"Die polnische Erinnerungspolitik kennt nur Schwarz-Weiß-Schema, Helden oder Verräter. Wir wollten die Zwischentöne zeigen: Die tragischen Schicksale von Menschen, die 1939 unter brutalen Druck gerieten", sagt der Pressesprecher des Museums Danzigund einer der Kuratoren der Ausstellung, Andrzej Gierszewski, der Deutschen Welle.

Auf diesem NS-Propagandafoto reißen Soldaten der deutschen Wehrmacht beim Einmarsch in Polen am 1.09.1939 einen rot-weißen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze niederBild: dpa/picture-alliance

Nach der Besetzung Polens durch NS-Deutschland im Herbst 1939 wurden weite Teile des polnischen Territoriums rechtswidrig ins Deutsche Reich eingegliedert - darunter Pommern mit Danzig, Westpolen mit Posen und Lodz sowie Oberschlesien. In diesen annektierten Gebieten wurde die polnische Führungsschicht - Politiker, Geistliche, Beamte und Lehrer - ermordet oder in die Konzentrationslager verschleppt.

Terror, Germanisierung, Zwangsrekrutierung

Dieser ersten Terrorwelle fielen zehntausende Polinnen und Polen zum Opfer. Im Zuge der "Germanisierung" wurden die als "überflüssig" eingestuften Bevölkerungsteile vertrieben. Menschen, die die deutschen Behörden als "germanisierungsfähig" einstuften, wurden in die "Deutsche Volksliste" (DVL) aufgenommen. Das bedeutete manche Privilegien, darunter eine zunächst auf zehn Jahre beschränkte deutsche Staatsbürgerschaft - aber auch Pflichten, vor allem die Wehrpflicht.

Eines der wenigen Eisernen Kreuze, die an polnische Wehrmachtssoldaten verliehen und nach 1945 nicht vernichtet wurden, ist Exponat der Ausstellung "Unsere Jungs" in DanzigBild: Jacek Lepiarz/DW

Über die Aufnahme in die DVL entschieden allein die deutschen Behörden; im Falle der Ablehnung drohten Repressalien bis zur Einweisung ins Konzentrationslager. Bis Kriegsende standen 2,9 Millionen Menschen im besetzen Polen auf der DVL. Je schlechter die Situation an den Fronten für die Wehrmacht wurde - vor allem nach der Niederlage in Stalingrad Anfang 1943 -, desto größer war der Bedarf an neuem "Kanonenfutter".

Untertauchen oder Nazi-Uniform tragen?

Den Eingezogenen blieb die Wahl zwischen Pest und Cholera: Sie konnten den Dienst verweigern und untertauchen, was schlimmste Folgen für ihre Familien, samt Verschleppung ins Konzentrationslager, bedeutete - oder sich ihrem Schicksal fügen. Deserteure, die erwischt wurden, endeten meistens unter dem Fallbeil. An der Westfront liefen fast 90.000 polnische Wehrmachtssoldaten zu den Briten und Amerikanern über. Sie kämpften später in polnischen Einheiten der Alliierten gegen Nazi-Deutschland.

Zwei Versionen eines Fotos einer polnischen Familie aus der Zeit der Nazi-Besatzung: Auf dem unteren Bild wurde die Wehrmachtsuniform des Vaters wegretuschiertBild: Jacek Lepiarz/DW

Nach Kriegsende galten Polen, deren Namen auf der Deutschen Volksliste standen, als Landesverräter. Manche wurden wegen Kollaboration verurteilt. Polnische ehemalige Wehrmachtssoldaten schwiegen daher über ihre Vergangenheit, versteckten belastende Unterlagen oder vernichteten sie. Uniformen wurden aus Familienfotos wegretuschiert. Viele Pommern und Schlesier lebten mit dem Trauma, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Vergangenheit als politische Waffe

Dass Vergangenheit auch nach Jahrzehnten gefährlich sein kann, erfuhr Polens heutiger Premierminister Donald Tusk vor 20 Jahren am eigenen Leib: Als er sich 2005 um das Präsidentenamt bewarb, behauptete das politische Lager seines Kontrahenten Lech Kaczynski, Tusks Großvater hätte sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Tatsächlich war Jozef Tusk 1944 zwangseingezogen worden - lief aber bereits nach knapp vier Monaten zu den Westalliierten über.

Rechte polnische Gruppierungen protestieren am 11.07.2025 vor dem Rathaus von Danzig gegen die Ausstellung "Unsere Jungs"Bild: P. Wilczynska/Museum für Geschichte Danzig

"Die historische Erinnerung Polens wird vom Zentrum in Warschau bestimmt und dominiert. Die Erfahrungen von Menschen aus Randgebieten, etwa Pommern oder Oberschlesien, werden ignoriert," meint Historiker Ryszard Kaczmarek. Millionen Menschen würden auf diese Weise aus der polnischen historischen Erinnerung ausgeschlossen.

Die lebhafte gesellschaftliche Reaktion auf die Ausstellung beweist, dass bei diesem Thema Nachholbedarf besteht: Viele Menschen brachten den Ausstellungsmachern wertvolle Erinnerungsstücke: Fotos, Briefe, Uniformen und sogar Eiserne Kreuze, die bisher unter Verschluss gehalten wurden.

Nach der ersten Protestwelle, die von der politischen Opposition angeheizt wurde, hat sich die Situation inzwischen beruhigt. Im letzten Raum der Ausstellung können die Besucher auf Zetteln ihr Urteil abgeben. Es überwiegen positive Meinungen. "Ich habe gelesen und gesehen - und bin dankbar," schrieb ein Besucher.

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.