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Politik

Polen: Druck auf kritische Richter steigt

Magdalena Gwozdz-Pallokat | Monika Sieradzka
8. Juni 2020

Müssen Richter, die für die Regierung unangenehme Entscheidungen fällen, im EU-Mitgliedsstaat Polen um ihre Immunität fürchten? Nun soll eine umstrittene Disziplinarkammer in einem konkreten Fall entscheiden.

Plakat | Proteste gegen Knebelung der polnischen Richter
Aufruf zum Protest für Richter Igor Tuleya in der polnischen Hauptstadt Warschau

Seit zwei Wochen hat Polens Oberstes Gericht eine neue Vorsitzende. Nun will es womöglich ein politisches Zeichen setzen: Nach der Corona-Pause soll sich seine Disziplinarkammer am Dienstag (9.06.2020) zunächst mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität des Richters Igor Tuleya befassen. Ein positiver Entscheid würde ein Strafverfahren gegen den 50-jährigen Juristen ermöglichen.

Die Staatsanwaltschaft wirft Tuleya vor, er habe vor drei Jahren Gerichtsverhandlungen für Journalisten offengehalten - und dabei Informationen aus den Ermittlungen öffentlich gemacht. "Der Antrag zur Aufhebung meiner Immunität ist eine politische Repressalie", sagt der Beschuldigte. "Ich habe keine Angst, weil ich glaube, dass ich vorbereitet bin." Ein wenig sarkastisch schiebt Tuleya im DW-Gespräch nach: "Und man kann sich auch im Gefängnis zurechtfinden."

Die Gerichtsverhandlungen von 2017 betrafen eine turbulente Parlamentssitzung ein Jahr zuvor. Es ging darum, das Recht von Journalisten auf Berichterstattung aus der Volksvertretung einzuschränken. Rund 30 oppositionelle Abgeordnete stürmten das Podium im Plenarsaal, forderten in Sprechchören und auf Plakaten "freie Medien" und skandierten "Keine Zensur".

Daraufhin wurde die Sitzung unterbrochen und in einen kleineren Saal mit nur 250 Plätzen verlegt - nicht genug für alle 460 Mitglieder des Parlaments. Einigen oppositionellen Abgeordneten wurde der Zugang blockiert, Anderen während der Debatte das Wort verweigert. Die ursprünglich für diesen Tag angesetzte Abstimmung über den Staatshaushalt fand trotz alledem statt.

Proteste im Plenarsaal des polnischen Parlaments am 16. Dezember 2016Bild: Picture-Alliance/dpa/M. Obara

Transparenz am Pranger

Als die Staatsanwaltschaft über die Unregelmäßigkeiten bei der Sitzung informiert wurde, ließ sie die Ermittlungen einstellen. Richter Igor Tuleya aber nahm sie nach einer Klage der Opposition wieder auf, weil er vermutete, dass über 200 Politiker der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) - unter ihnen der Justizminister - zuvor als Zeugen falsch ausgesagt hatten. Diese Aussagen machte er während der Gerichtsverhandlung vor drei Jahren öffentlich, was ihm die Staatsanwaltschaft jetzt vorwirft.

"Schwach und absurd" - so bezeichnet Tuleya die Vorwürfe. "Ich habe nichts Neues gesagt, was die Öffentlichkeit schon vorher nicht gewusst hätte, weil die Parlamentssitzung online zugänglich war. Also habe ich auch keine Geheimnisse verraten. Bei der Sitzung war zudem auch der Staatsanwalt anwesend, der zuvor die Ermittlung eingestellt hatte. Er war damit einverstanden, dass das Gericht unter Teilnahme von Öffentlichkeit und Medien tagt."

Richter Igor Tuleya spricht im Dezember 2019 bei Protesten gegen die Justizreform in WarschauBild: Imago Images/newspix

Ein "abgekartetes Spiel"

Tuleya meint, er habe so der Öffentlichkeit "den Mechanismus gezeigt, wie man der Opposition die Teilnahme an der Debatte verweigert hat." Die Parlamentssitzung von 2016 sei ein "abgekartetes Spiel" gewesen: "Die Abgeordneten der Regierung haben schon im Vorfeld beschlossen, die Opposition nicht reden zu lassen. Sie haben extra drei Reihen mit Stühlen aufgestellt, die den Weg zum Rednerpult verstellten. In der ersten Reihe saßen bewusst kräftigere PIS-Abgeordnete, sollte jemand von der Opposition versuchen durchzukommen." All das hätten Zeugen bestätigt.

Die Disziplinarkammer, die über Tuleyas Immunität entscheiden soll, ist ein Schlüsselelement des Disziplinarsystems der Justizreform, die die nationalkonservative PiS-Regierung initiiert hat. Die Kammer kann Richter und Staatsanwälte suspendieren, entlassen oder versetzen.

Polnische Richter demonstrieren im Januar 2020 in Warschau mit einer Europafahne gegen die JustizreformBild: Getty Images/AFP/J. Skarzynski

Kritik des EuGH

Die Justizreform sieht man in Brüssel als Versuch einer Aushebelung der Gewaltenteilung in Polen. Gegen das EU-Mitgliedsland laufen derzeit mehrere Vertragsverletzungsverfahren. 2019 hat die Europäische Kommission beim Europäischen Gerichtshof eine Klage eingereicht, wonach die Disziplinarkammer gegen das EU-Prinzip des "effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes" verstoße. Im April 2020 gaben die obersten EU-Richter der Klage statt. Laut einstweiliger Verfügung sollte die Arbeit das Gremium bis zur endgültigen Entscheidung "unverzüglich ausgesetzt" werden.

Richter Tuleya sieht in der Disziplinarkammer ein verfassungswidriges "Sondergericht". Sie sei von Personen besetzt, die dem Generalstaatsanwalt nahestehen, der gleichzeitig Justizminister und Vorsitzender eines PiS-Koalitionspartners ist. Deshalb will sich Tuleya dem Gremium nicht stellen. "Ich bin nicht nur ein polnischer, sondern auch ein europäischer Richter, der auch die europäische Rechtsordnung beachten muss. Wenn ich an dieser Tagung teilnehmen würde, würde ich die EuGH-Entscheidung missachten", betont er.

Mit der Verfassung in der Hand und in Verfassungsrichter-Roben gekleidet protestieren Bürgerinnen und Bürger in Krakau gegen die Justizreform Bild: imago images/ZUMA Press/O. Marques

Abschreckung für andere Richter

Die Disziplinarkammer interpretiert das anders: Das Urteil des EuGH beziehe sich lediglich auf Disziplinarverfahren gegen die Richter, eine Aufhebung der Immunität wie im Falle Tuleyas falle nicht in diese Kategorie.

Tuleya spricht von einem "furchteinflößenden Effekt auf Richter": "Bei der Aufhebung meiner Immunität geht es nicht um ein konkretes Urteil, sondern darum, das Verfahren in die Länge zu ziehen, damit ich so lange wie möglich suspendiert bleibe. Damit werde ich sozusagen zu einer Art Abschreckung für andere Richter".

Anhänger der PiS-Regierung demonstrieren im Februar 2020 in Warschau für die JustizreformBild: picture-alliance/AP Photo/C. Sokolowski

Protest statt Kotau

Mit der Immunität könnte der Verlust von bis zu 50 Prozent seines Gehalts einhergehen. "Doch das Schlimmste für mich wäre, dass ich nicht mehr urteilen dürfte", kommentiert Tuleya. Er sei traurig, dass "die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen zerstört werden". Das belegen für Tuley Umfragen von 2018 und 2019, wonach sich 30 Prozent der polnischen Richter politischem Druck ausgesetzt fühlten und die überwiegende Mehrheit der Richter von Fällen von Druck auf Kollegen gehört hat.

Statt vor der Disziplinarkammer zu erscheinen will er sich am Dienstag (9.6.2020) den Protesten vor dem Obersten Gericht anschließen. "Wenn der Staatsanwalt konsequent handeln will, müsste er mich zum Verhör führen oder vorläufig festnehmen. Ich rechne damit, dass die Sache auch so ausgehen kann." Er sei "mental vorbereitet" und werde nicht aufgeben: "Ich glaube, indem ich um unabhängige, freie Gerichte in Polen kämpfe, kämpfe ich auch darum, dass Polen weiterhin EU-Mitglied bleibt."

 

Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau