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Politik

Erst Alarm, dann Deeskalation nach Raketeneinschlag in Polen

16. November 2022

Die NATO sieht keinen russischen Angriff auf ihr Mitglied Polen - aber wegen des Ukraine-Krieges die Verantwortung in Moskau. Die Sorge in der Region wächst.

Blick auf eine Szene im Dunklen: Personen in orangefarbener Kleidung laufen durch Trümmer
Nach dem Einschlag in Polen: Die NATO ist überzeugt, dass die Rakete kein russischer Angriff warBild: UGC via REUTERS

Am Abend des 15. November schlagen Raketentrümmer in einem polnischen Dorf an der Grenze zur Ukraine ein und töten zwei Menschen. Im Nachbarland tobt der Krieg; Russland feuert jeden Tag zahlreiche Raketen auch auf zivile ukrainische Ziele ab. Für kurze Zeit sieht es so aus, als könnte das NATO-Land Polen angegriffen worden sein. Es wäre das, was die NATO unbedingt vermeiden will: in diesen Krieg hineingezogen zu werden.

Voreilig scheint der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wenig später bereits sicher: "Dies ist ein russischer Raketenangriff auf die kollektive Sicherheit!" Polens Oppositionsführer, der ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk sagt über die zwei getöteten Polen, diese seien "die ersten Opfer dieses Krieges auf polnischem Boden".

Die Botschaft: keine Panik!

Die Alarmglocken überall im Westen klingeln. Doch die Möglichkeit eines gezielten russischen Angriffs stellt sich einige Stunden später zunächst als unsicher, dann als sehr wahrscheinlich falsch heraus. Demnach dürfte die Rakete eine von der Ukraine abgeschossene Luftabwehrrakete gewesen sein, die versehentlich über Polen niederging.

Der Raketeneinschlag könnte im Zusammenhang mit den russischen Angriffen auf das ukrainische Lwiw stehenBild: polnische Feuerwehr/dpa

Was dann einsetzt, ist ein überraschend einhelliger internationaler Beruhigungsversuch. Er zeigt, wie groß die Sorge vor einer Eskalation und einer Ausweitung des Krieges ist.

Mit als erster meldet sich US-Präsident Joe Biden mit der Botschaft, die Rakete sei wahrscheinlich nicht von Russland aus abgefeuert worden. Das sagt der Präsident des Landes, das die Ukraine wie kein anderes militärisch unterstützt.

Bezeichnend ist, dass auch China, das Russlands Einmarsch in der Ukraine nicht kritisiert hat, zur Vorsicht mahnt. Alle Parteien sollten unter den gegenwärtigen Umständen ruhig bleiben und Zurückhaltung üben, so die Sprecherin des Außenministeriums.

Selbst in Polen, wo die Rakete eingeschlagen ist, bemüht man sich bald von höchster Stelle, die Wogen zu glätten. Präsident Andrzej Duda kommt zu dem Schluss: "Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte."

Dringliche Beratungen am Morgen in Bali: Joe Biden (sitzend), Olaf Scholz, Pedro Sánchez, Emmanuel Macron (v.l.n.r.)Bild: Steffen Hebestre/Bundesregierung/dpa/picture alliance

Später äußert sich auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Wir haben keine Hinweise darauf, dass das ein beabsichtigter Angriff war", so formuliert es Stoltenberg nach einer Dringlichkeitssitzung des NATO-Rats am Mittwochmittag in Brüssel.

Ohne Krieg kein Raketeneinschlag

Zur Vorsicht mahnt auch Bundeskanzler Olaf Scholz. "Jede voreilige Festlegung über den Tatsachenverlauf vor seiner sorgfältigen Untersuchung verbietet sich bei einer so ernsten Angelegenheit", sagt er nach dem G20-Gipfel in Bali. In einem Interview mit dem Sender n-tv fügt er hinzu, er sei "sehr froh" darüber, dass "alle sehr besonnen, ruhig und klar mit dieser Herausforderung" umgegangen seien.

Scholz hat früh nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 vor einem dritten Weltkrieg gewarnt. Er war deswegen immer zögerlich mit Waffenlieferungen an die Ukraine, was ihm im In- und Ausland auch Kritik eingetragen hat. Zum Ärger der Regierung in Kiew und auch einiger osteuropäischer NATO-Staaten verweigert Scholz der Ukraine bis heute die dringend geforderten deutschen Kampf- und Schützenpanzer. Seine Sorge ist, dass sie in Moskau als Offensivwaffen betrachtet werden und Deutschland dann in den Augen Wladimir Putins Kriegspartei wird.

Kreml: Andere sollen sich Beispiel an Biden nehmen

Auch wenn Scholz und andere westliche Politiker einen unmittelbaren russischen Angriff auf das NATO-Land Polen inzwischen nahezu ausschließen, geben sie Russland letztlich die Verantwortung. Der Raketeneinschlag wäre nicht passiert, sagt Scholz, "ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in großem Ausmaß auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden". Der Krieg, sagt auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg, sei "der wahre Grund für den Vorfall".

Jeden Tag schlagen russische Raketen und Marschflugkörper in ukrainischen Städten einBild: Gleb Garanich/REUTERS

Der Kreml fährt unterdessen offenbar eine Doppelstrategie aus Drohung und Deeskalation. Ohne jemandem die Verantwortung für den Raketeneinschlag zu geben, schreibt der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew auf Twitter: "Der Westen rückt einem Weltkrieg näher, wenn er einen hybriden Krieg gegen Russland führt."

Seine Äußerung fällt zusammen mit der Äußerung des russischen UN-Botschafters Dmitri Poljanski, der auf seinem Telegram-Kanal von einem Provokationsversuch schreibt: "Es gibt einen Versuch, einen direkten militärischen Zusammenstoß zwischen der NATO und Russland zu provozieren, mit allen Konsequenzen für die Welt."

Auf der anderen Seite scheint auch Moskau daran gelegen, die Situation zu beruhigen, man versucht gleichzeitig, aus dem Vorfall politisches Kapital zu schlagen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow begrüßt die "zurückhaltende und professionellere Reaktion" der US-Regierung. Andere Länder, die "eine hysterische, wahnsinnige russophobe Reaktion" gezeigt hätten, sollten sich daran ein Vorbild nehmen.

Luftabwehr soll verstärkt werden

Die weltweiten Börsen haben die anfängliche Aufregung ziemlich schnell abgehakt. Nach einem kurzen Schreckmoment erholten sich wichtige Indizes wieder, was zeigt, dass Anleger derzeit nicht mit einer Ausweitung des Ukraine-Krieges auf die NATO rechnen.

Die Betonung liegt auf "derzeit". Denn die Angst, dass sich der Krieg auf NATO-Gebiet ausweitet, ist geblieben. In den östlichen NATO-Ländern zieht man Konsequenzen. Polen will die Überwachung seines Luftraums verstärken. Dafür bot auch das Bundesverteidigungsministerium Polen Unterstützung an. Deutsche Eurofighter könnten dazu "bereits ab morgen" zum Einsatz kommen, "wenn Polen dies wünscht", sagte ein Sprecher in Berlin.

Der litauische Präsident Gitanas Nauseda fordert die NATO dringend auf, zügig Flugabwehr-Systeme an der gesamten Ostflanke der NATO zu stationieren. Der polnische Generalstab weist allerdings mögliche Vorwürfe zurück, die polnische Luftabwehr habe hier versagt. Man könne kritische Infrastrukturen schützen. Aber "keine Armee verfügt über ein Luftabwehrsystem, das das gesamte Territorium eines Landes schützt".

NATO-Chef: Wir sind vorbereitet

Falls der Raketeneinschlag am Dienstag sich aber doch als russischer Angriff herausgestellt hätte? Stoltenberg sagt, dass in einem solchen Fall "die NATO bereit ist, zu handeln in einer entschlossenen, ruhigen Art".

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg weist Russland nicht die unmittelbare Schuld zu, aber die letztliche Verantwortung durch den Krieg gegen die UkraineBild: Valeria Mongelli/ZUMA Press Wire/dpa/picture alliance

Stoltenberg hat das im Oktober bereits in einem DW-Interview klargestellt. Werde ein NATO-Land angegriffen, dürfe es in Moskau keinerlei Missverständnisse geben: Das "würde natürlich Artikel 5 auslösen, die Klausel kollektiver Verteidigung".

Deshalb habe man auch im Osten der NATO die Truppenpräsenz verstärkt und in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. "Wir tun das nicht, um einen Konflikt zu provozieren, sondern um einen Konflikt zu verhindern."