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Politik

Geraubte Kinder - vergessene Opfer

29. Dezember 2017

Bis zu 200.000 polnische Kinder wurden während der deutschen Besatzung zwangsgermanisiert. Die meisten wurden ihren Eltern weggenommen und entführt. Die DW und Interia.pl helfen Betroffenen bei der Spurensuche.

Bildkombo Ausstellung Geraubte Kinder Zyta Suse
Zyta Suś als Kind - und heute

Trotz ihrer 83 Jahre und der Rückenschmerzen hat Zyta Suś viel Energie und scherzt gerne. Nur wenn sie über ihre Entführung nach Deutschland spricht, ist ihre Stimme gedämpft. 1942 wurde sie aus einem Waisenhaus in Lodz entführt. Erst mit zwölf kehrte sie nach Polen zurück. Heute lebt sie in einem ärmlichen Arbeiterviertel in Warschau, unter einem anderen Namen. In ihrer Nachbarschaft soll niemand von ihrem tragischen Schicksal erfahren. "Ich will nicht wieder ein deutscher Bastard sein", erklärt sie. So wurde sie genannt, als sie nach dem Krieg aus Deutschland zurückkam.      

Die Stärkung der "arischen Rasse"

Die Zwangsgermanisierung von Kindern wie Zyta Suś wurde meist mit brutalen Methoden durchgeführt. Sie traf vor allem Kinder, die aus dem besetzten Polen ins Deutsche Reich verschleppt oder den polnischen Zwangsarbeiterinnen in Deutschland weggenommen wurden.

Bereits 1938 erklärte SS-Reichsführer Heinrich Himmler: "Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann." In den besetzten Ländern wurden Kinder daraufhin ihren Eltern entrissen oder aus Waisenhäusern geraubt. Die Auswahlkriterien waren blaue Augen und blonde Haare, entsprechend der Idealvorstellung Hitlers vom "Arier". Für die Zwangsgermanisierung der Kinder war der SS-Verein "Lebensborn" zuständig.

Die Spurensuche ist schwierig - auch weil die Namen der entführten Kinder von deutschen Institutionen häufig geändert wurden Bild: Ewelina Karpińska-Morek

Wer war meine Mutter?

Nach der Entführung ins Reich durfte Zyta ihre Muttersprache nicht sprechen. In der Reichsschule für Volksdeutsche in Achern und im Lebensborn-Heim in Steinhöring gab es dafür harte Strafen, wie Hungern und Einsperren im Keller. Doch schließlich konnte sie von "Glück im Unglück" sprechen, weil sie in eine liebevolle Pflegefamilie in Salzburg kam. Nach dem Krieg hat die polnische Regierung über 30.000 entführte Kinder wieder nach Polen gebracht und Zyta war eines davon. Sie kam wieder in ein Waisenhaus und wurde als "dumme Deutsche" beschimpft, weil sie nur noch Deutsch konnte. Deshalb nennt sie die Zeit bei ihrer Salzburger Pflegefamilie "die schönste Zeit meines Lebens". Die Verwandten dieser Familie sucht sie vergeblich - bis heute.

Kampf um Entschädigung 

Das deutsch-polnische Journalistenteam von der Deutschen Welle und dem polnischen Nachrichtenportal Interia.pl hilft Zyta Suś dabei. In mehreren Archiven in Deutschland und Polen wurde nach Spuren von "Verwandten" in Österreich gesucht und vor allem von ihrer polnischen Mutter. Da die Namen der entführten Kinder von deutschen Institutionen häufig geändert wurden, ist die Suche oft aussichtslos.

So wie im Fall von Hermann Lüdeking, der auch aus dem besetzten Polen entführt wurde. Heute lebt er in Süddeutschland. Auch er will herausfinden, wer seine Eltern waren. Dem 88-Jährigen hilft der Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer". Die Organisation versucht auch seit 2012, deutsche Politiker für das Thema zu interessieren - vergeblich. "Man hat uns als Opfer vergessen. Andere Opfergruppen haben Entschädigungen von Deutschland bekommen, nur wir nicht", sagt Hermann Lüdeking. Jetzt kämpft er als erstes von den Nazis entführte polnische Kind vor Gericht um eine Entschädigung. Im Sommer 2017 reichte er eine Klage gegen die Bundesrepublik ein und wartet auf den Prozess. Ein Gerichtstermin steht noch nicht fest.

Hermann Lüdeking will herausfinden, wer seine Eltern waren

Das erste deutsch-polnische Projekt über geraubte Kinder

Im Sommer 2017 startete auch das deutsch-polnische Projekt der DW und des polnischen Nachrichtenportals Interia. Seither besuchten die Reporter aus beiden Ländern Institutionen, Archive und Stiftungen, sowie die noch lebenden Opfer der Zwangsgermanisierung. Sie waren auch an mehreren historischen Orten, wo sich früher Lebensborn-Heime befanden und wo verschleppte Kinder landeten: Hohenhorst bei Bremen, Kohren-Sahlis bei Leipzig, sowie das Gebäude der ehemaligen "Reichsschule für Volksdeutsche" in Achern, um dort mit Zeitzeugen und Historikern zu sprechen. 

Es ist das erste Mal, dass Medien aus beiden Ländern gemeinsam über das Thema berichten und den Opfern bei der Spurensuche helfen. Innerhalb von wenigen Monaten erschienen über 40 Texte und 24 Videos, die mehrere Millionen Menschen erreicht haben. Viele Menschen meldeten sich bei der DW und Interia, sowie in sozialen Medien, darunter auch einige Betroffene, die die Aktion dazu ermutigte, mehr über ihr Schicksal zu recherchieren.      

Die Uhr tickt

Mit dem Projekt wurden weitere Untersuchungen eingeleitet und Menschen zusammengebracht, die sich gegenseitig bei der Spurensuche helfen können. Doch zu einem "Happy End" hat es bisher noch nicht gereicht. Zyta Suś, Hermann Lüdeking und viele andere suchen weiter. Der Schritt zum Gericht, wie ihn der 88-Jährige wagte, wird die Probleme zwar nicht lösen, doch das Schicksal der vergessenen Opfer wird dadurch bekannter.

Das war auch das Ziel der Reporter aus Deutschland und Polen, die über Monate diese Menschen begleiteten. "Mit Menschen zu sprechen, die auf ihrer Familiensuche über Jahrzehnte hinweg immer alleine waren und die mit 80 nicht wissen, wer sie sind" sei für sie, als Journalisten, mit am schwierigsten gewesen, sagt Ewelina Karpinska-Morek von Interia.pl. "Wir haben immer den Zeitdruck gespürt. Uns war immer bewusst, dass es der letzte mögliche Moment ist, wo wir den Opfern noch zuhören können."

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