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PolitikPolen

Polen: "Himmelfahrtskommando" für Noch-Premier Morawiecki

Jacek Lepiarz (aus Warschau)
7. November 2023

Donald Tusks Oppositionsbündnis hat eine stabile Mehrheit im Parlament und will schnell regieren. Den Regierungsauftrag bekommt aber der national-konservative Wahlverlierer Mateusz Morawiecki. Was sind die Hintergründe?

Zwei Männer in Anzügen, Polens Präsident Andrzej Duda und Polens Premier Mateusz Morawiecki
Polens Staatspräsident Andrzej Duda (li.) und Noch-Premier Mateusz MorawieckiBild: JANEK SKARZYNSKI/AFP

Polens Präsident Andrzej Duda steht gern im Rampenlicht. Auch am Montagabend genoss er sichtlich seine Rolle, als er in einer Fernsehansprache überraschend den Namen des Politikers bekannt gab, der in seinem Auftrag den Versuch unternehmen soll, die künftige Regierung zu bilden. Ursprünglich war mit einer Entscheidung erst in der kommenden Woche gerechnet worden, wenn das neue Parlament erstmals zusammentritt.

"Nach einer ruhigen Analyse und erfolgten Konsultationen habe ich beschlossen, den Auftrag zur Regierungsbildung dem Premier Mateusz Morawiecki zu erteilen", sagte Duda. Er begründete seine Entscheidung mit der "guten parlamentarischen Tradition", dass die stärkste Partei immer als erste die Chance zur Regierungsbildung bekommen solle. Der 55-jährige Ex-Banker Morawiecki leitet die PiS-Regierung seit 2017.

Morawiecki bedankte sich bei Duda für das Vertrauen. "Ich lade alle Parlamentarier, die Polen in den Vordergrund stellen, zur Zusammenarbeit ein", schrieb Polens Premier anschließend auf X (vormals Twitter).

Klares Wahlergebnis, Probleme mit der Mathematik

"Duda hat Morawiecki zu einem Himmelfahrtskommando verurteilt", schreibt der Chefredakteur der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita, Boguslaw Chrabota, am Dienstag (07.11.2023) in einem Leitartikel. Der ehemalige sozialdemokratische Regierungschef Marek Belka kommentierte: "In Mathe eine Sechs. In Verantwortung sogar eine Null mit Ausrufezeichen. Schämen Sie sich nicht, Herr Präsident?" Ein Vertrauter des Oppositionsführers Donald Tusk sprach von einem "politischen Kabarett".

Der polnische Oppositionsführer und wahrscheinlich nächste Premier Polens, Donald TuskBild: Johanna Geron/REUTERS

Die Parlamentswahl in Polen am 15. Oktober hatte eigentlich ein klares Ergebnis gebracht: Die demokratische Opposition um den liberal-konservativen Donald Tusk, die aus drei Parteien-Blöcken (Bürgerkoalition KO, Dritter Weg TD und die Neue Linke) besteht, verfügt im neuen Parlament über 248 Mandate. Die absolute Mehrheit beträgt 231 Stimmen.

Tusk: Regierung vor Heiligabend

Die national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die seit acht Jahren das Land regiert, wurde zwar mit 35,4 Prozent die stärkste Kraft, gewann aber nur 194 Mandate und kann ohne Koalitionspartner nicht weiter regieren. "Jedes Kind weiß, dass die Zahl 248 grösser als 194 ist", wiederholen seit drei Wochen Politiker der siegreichen Allianz. Laut Verfassung ist der Staatspräsident nicht zwingend verpflichtet, nach einer Wahl zuerst der stärksten Parlamentspartei den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen.

Tusk reagierte auf Dudas Entscheidung demonstrativ gelassen. "Sie wollen uns noch einige Tage, vielleicht zwei oder drei Wochen stehlen. Schade. Das [der Machtwechsel, Anm.d.Red.] wird länger dauern", sagte der Kandidat der demokratischen Opposition für das Amt des Regierungschefs am Montag (06.11.2023) in Breslau (Wroclaw). Er verstehe nicht, warum Präsident Duda Morawiecki und andere PiS-Politiker einer solchen "traurigen Demütigung" aussetze. Tusk versicherte, dass Polen im schlimmsten Fall eine neue Regierung vor Weihnachten (24. Dezember) haben werde. Das Koalitionsabkommen sei "festgezurrt" und soll vor der Parlamentssitzung am kommenden Montag (13.11.2023) unter Dach und Fach sein.

Polens Oppositionsführer Donald Tusk am Wahlabend des 15.10.2023 in WarschauBild: REUTERS

Die PiS sieht ihre einzige Chance, weiter zu regieren, in der Spaltung der demokratischen Opposition. Die National-Konservativen hofieren deshalb die Bauernpartei PSL, die im Wahlkampf zusammen mit Polska 2050 als das Bündnis Dritter Weg auftrat. In der Frage der Abtreibung ist die Partei konservativer als andere Partner. Morawiecki geht in seinen Bemühungen um die Gunst der PSL so weit, dass er in einem Interview die Frage bejahte, ob er sich vorstellen könne, als Minister in einer Regierung des PSL-Chefs Wladyslaw Kosiniak-Kamysz zu dienen. Doch die Bauernpartei zeigte der PiS die kalte Schulter. Das Führungsgremium der PSL bestätigte am vergangenen Samstag (04.11.2023) einstimmig, dass sie eine Koalition mit KO und der Linken eingehen werde.

Mythos vom gestohlenen Sieg

Welches Ziel hat nun die Verzögerungstaktik? "Duda zeigt Solidarität mit Parteikollegen, die noch Zeit brauchen, um Dateien in den Computern zu löschen, Dokumente zu verbrennen und der neuen Regierung Fallen zu stellen", schreibt Boguslaw Chrabota in Rzeczpospolita.

Tatsächlich werden in den Ministerien immer noch Entscheidungen über die Verteilung von Geldern getroffen. Und in den von der PiS kontrollierten Staatsmedien, die in den vergangenen Jahren als Sprachrohr der Partei fungierten, bekommen die Mitarbeitenden neue Arbeitsverträge, die ihre Entlassung erschweren sollen. 

Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw KaczynskiBild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

Nach Ansicht mancher Beobachter geht es aber noch um mehr: Der zum Scheitern verurteilte Versuch, eine neue PiS-Regierung zu bilden, diene dem "Aufbauen eines Mythos vom gestohlenen Sieg", schreibt Agnieszka Dlugosz in der Wochenzeitung Newsweek Polen. Dieser Mythos solle der PiS und ihrem Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski helfen, die Macht zurückzuerobern. Die Soziologin Helena Chmielewska-Szlajfer sagte in einem Interview mit der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza: "Duda hat seine persönliche Karriere über die Interessen des Landes gestellt. Er hat sich der Partei (PiS) untergeordnet."

Kaczynski sorgt sich um seine Partei

Der noch amtierenden Regierung bleibt aber nicht viel Zeit. Wenn Morawiecki scheitert, wird die Mehrheit im Parlament spätestens Anfang Dezember ihren Kandidaten Tusk vorschlagen. Duda versicherte im Fernsehen, dass er in diesem Fall den Kandidaten "unverzüglich" berufen werde.

Und was macht der große Wahlverlierer Jaroslaw Kaczynski? Er ist nach dem Wahlabend von der Bildfläche verschwunden. Der Parteivorsitzende fehlte sogar beim Treffen der neu gewählten PiS-Parlamentarier am Montag in der Parteizentrale in Warschau. Angesichts der Kritik an der Parteiführung wegen der verlorenen Wahl kümmert sich der Hauptrivale von Tusk offenbar im Hintergrund um den Zusammenhalt seiner Gruppierung. Denn die nächste Feuerprobe kommt bereits im April, wenn die Kommunalwahlen anstehen. Von der politischen Rente, in die ihn jetzt sogar manche Parteigenossen schicken wollen, will der 74-Jährige vorerst nichts wissen.

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.
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