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PolitikEuropa

Polen: Kaczynski fordert Entschädigungen

2. September 2022

Die deutsch-polnischen Beziehungen stecken in der Krise. Mit der Forderung, Verhandlungen über Reparationen aufzunehmen, dreht PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski an der Eskalationsspirale. Es geht um über 1,3 Billionen Euro.

Polen Jaroslaw Kaczynski Kranzniederlegung
Der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, am 1. September 2022 in Warschau bei einer Kranzniederlegung zur Erinnerung an den deutschen Überfall auf Polen 1939Bild: Michal Dyjuk/AP Photo/picture alliance

83 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 hat der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, die Aufnahme von Verhandlungen mit Berlin angekündigt, um Entschädigungen für die menschlichen und materiellen Verluste Polens während des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 zu bekommen.

Kaczynski sprach anlässlich der Vorstellung eines Gutachtens, das eine 2017 gebildete Gruppe von polnischen Parlamentsabgeordneten mit Hilfe von externen Experten auf Anregung des PiS-Chefs hin erstellt hat. In dem Papier werden die polnischen Verluste auf mehr als 6,2 Billionen polnischen Zloty (1,3 Billionen Euro) beziffert.

Die Ruinen der von Deutschen zerstörten polnischen Hauptstadt Warschau 1945Bild: EPU CAF/dpa/picture alliance

"Es geht darum, in einem wahrscheinlich schwierigen und langen Verfahren die Wiedergutmachung für all das zu erreichen, was Deutschland, der deutsche Staat und die deutsche Nation Polen angetan haben", so Kaczynski am Donnerstag (01.09.2022) im Warschauer Königsschloss. Der Ort hat symbolische Bedeutung, da die historische Residenz der polnischen Herrscher in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges schwer beschädigt und erst in den 1970er Jahren wiederaufgebaut wurde.

"Wir haben eine Entscheidung über unser weiteres Vorgehen getroffen", so Kaczynski weiter. "Es besteht in der Aufforderung an Deutschland, Verhandlungen über Reparationen aufzunehmen. Die deutsche Wirtschaft kann die Summe durchaus stemmen, sie wird dadurch nicht übermäßig belastet. Deshalb kann man unsere Forderung als völlig realistisch bezeichnen."

"Umbau des Bewusstseins der deutschen Nation"

Den Deutschen warf der polnische Politiker vor, dass sie in Polen begangene Verbrechen nicht aufgearbeitet hätten. Die deutschen Untaten im Zweiten Weltkrieg seien niemals Bestandteil des deutschen Massenbewusstseins geworden. "Unser Ziel ist ein tiefer Umbau des Bewusstseins der deutschen Nation", kündigte Kaczynski an.

Die Nike, das Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung 1939-45 in Polens Hauptstadt WarschauBild: BE&W/imago images

Unter den von den Autoren des Gutachtens erfassten mehr als 5,2 Millionen Polen, die in den Kriegsjahren durch Deutsche umgebracht worden waren, befinden sich auch Bürger jüdischer Abstammung. Entsprechend bot Kaczynski Israel Gespräche an, falls dort Interesse an einer Beteiligung an Verhandlungen mit Berlin bestünde. Juden stellten vor dem Zweiten Weltkrieg etwa zehn Prozent der Bevölkerung Polens.

"Aggressive antideutsche Politik"

Die deutsche Regierung betrachtet die Reparationsfrage für politisch und rechtlich endgültig beendet - bestreitet aber nicht die weitere moralische Verantwortung Deutschlands. "Die PiS weiß, dass es nicht zu Entschädigungszahlungen kommen wird, egal, wer in Berlin regiert", so der Polen-Beauftragte der Bundesregierung, Dietmar Nietan, in der aktuellen Ausgabe des Vorwärts, der Zeitschrift der SPD. Eine Klage hätte vor keinem Gericht der Welt Aussicht auf Erfolg.

Dietmar Nietan, Koordinator für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit der BundesregierungBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

"Wir sollten jetzt den Spieß umdrehen", so Nietan weiter, "wir sollten proaktiv politisch mit dem Thema umgehen." Der PiS wirft der deutsche Sozialdemokrat eine "aggressive antideutsche Politik" vor. Die oppositionelle CDU teilt den Standpunkt der Bundesregierung, dass es keine rechtlichen Grundlagen für eine Aufnahme von Verhandlungen über Kriegsreparationen mit Polen gibt.

"Bewusstsein in Westeuropa ändern"

Polens Rechte hat das Thema Reparationen nach ihrem Wahlsieg im Herbst 2015 auf die Tagesordnung gesetzt. 2021 gründete Regierungschef Mateusz Morawiecki (PiS) das "Institut zur Erforschung der Kriegsverluste", das die Arbeit der 2017 gegründeten Abgeordnetengruppe fortsetzen soll.

Polens Regierungschef Mateusz MorawieckiBild: Mindaugas Kulbis/AP Photo/picture alliance

Es war Kaczynski, der im Juli 2022 auf der Welle wachsender Spannungen zwischen Warschau und Berlin den 1. September 2022 als Termin der Publikation öffentlich machte. Dabei ließ er offen, wann eine entsprechende offizielle Note nach Berlin geschickt wird. "Das kann ich in diesem Moment nicht sagen, wir müssen uns allerdings beeilen, weil die Zeit günstig ist. Wir wollen das tun, auch um das Bewusstsein in Westeuropa zu ändern", so der PiS-Vorsitzende im Juli.

"Pragmatische Lösung" für die letzten noch lebenden Opfer

Die polnische Gesellschaft ist in der Frage der Reparationen tief gespalten. In der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRiS für die Zeitung Rzeczpospolita vom 31. August 2022 befürworten 51,1 Prozent die Bemühungen um die Wiedergutmachung, während 41,5 Prozent dagegen sind.

Der polnische Politologe Antoni Dudek hält angesichts des Krieges in der Ukraine die antideutsche Politik der PiS für brandgefährlich. "Kaczynski spielt an der Tankstelle mit Streichhölzern", so der Wissenschaftler gegenüber der Online-Plattform Wirtualna Polska.

Auch der Historiker Krzysztof Ruchniewicz meint, dass die Reparationsfrage der PiS innenpolitisch zur Mobilisierung der rechten Wählerschaft dienen soll. Und auch er hält das Thema der zwischenstaatlichen Entschädigungen für abgeschlossen. Sinnvoll wäre dagegen eine "pragmatische Lösung" für die immer kleiner werdende Gruppe der noch lebenden Opfer. Einen deutschen oder deutsch-polnischen Fonds, aus dem Medikamente oder Sanatorien-Aufenthalte für kriegsgeschädigte Seniorinnen und Senioren finanziert werden können, hält Ruchniewicz für "durchaus angebracht".

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.