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Politik

Polen: Proteste nach Abtreibungsverbot

23. Oktober 2020

Tausende Menschen protestieren in Polen gegen ein Gerichtsurteil, das die Abtreibung fast vollständig verbietet. Polens Bischöfe loben das Urteil, Kritiker nennen es barbarisch.

Polen | Protest gegen Abtreibungsverbot
Protest gegen das Abtreibungsverbot in KrakauBild: Artur Widak/NurPhoto/picture-alliance

Das polnische Verfassungsgericht hat in seinem Urteil die Abtreibung behinderter Föten mit großer Mehrheit für verfassungswidrig erklärt. Solche Schwangerschaftsabbrüche würden gegen den von der Verfassung garantierten Schutz des Lebens verstoßen. Künftig wird eine Abtreibung nur noch bei Gesundheitsgefahr der Frau legal sein oder wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist.

Fast ein totales Abtreibungsverbot

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag (22.-23.10.2020) haben Tausende Menschen in ganz Polen gegen das Urteil protestiert. "Kämpft gegen das Virus, nicht gegen die Frauen" - stand auf den Transparenten. "Du wirst heute nicht schlafen", riefen Demonstranten, die sich in der Nähe des Hauses des Vizepremierministers und Vorsitzenden der regierenden Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, versammelten. Hunderte Polizeikräfte blockierten die umliegenden Straßen und setzten Tränengas gegen die Demonstranten ein. Mehrere Personen wurden festgenommen.

Warschau: Proteste gegen das verschärfte AbtreibungsgesetzBild: Jacek Marczewski/Agencja Gazeta/Reuters

Kaczynski gehört zu den schärfsten Abtreibunsgegnern im Regierungslager. Er will, dass auch schwerbehinderte Kinder zur Welt kommen, denn dann könnten sie im katholischen Sinne "getauft und beerdigt werden und einen Namen tragen".

In Polen werden jedes Jahr über 1000 Schwangerschaftsabbrüche registriert. Die Dunkelziffer soll laut Frauenorganisationen weitaus höher sein. Bei 98 Prozent der legalen Abtreibungen handelt es sich um unheilbar kranke Föten. Das Urteil des Verfassungsgerichts bedeutet also praktisch ein totales Abtreibungsverbot.

Kritik in Polen und im Ausland

Die Gerichtsentscheidung sorgt für heftige Kritik in Polen und im Ausland. Der frühere polnische Premierminister Donald Tusk, Ex-Chef des Europäischen Rates, twitterte: "Das Thema Abtreibung und die Entscheidung eines Pseudo-Gerichts inmitten der grassierenden Pandemie auf die Agenda zu bringen, ist mehr als zynisch".

Das Verfassungsgericht, bei dem die Entscheidung lag, wird von der polnischen Opposition als illegitim gesehen, weil es von der PiS unter Regierungskontrolle gestellt wurde. Die Europäische Kommission sieht die Übernahme des Gerichtswesens durch die regierende Partei als Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit.

"Ich bin empört sowohl über den barbarischen Charakter der neuen Restriktionen, als auch über die Art und Weise, wie sie eingeführt wurden", erklärte Iratxe García Pérez, die Fraktionsvorsitzende der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Das polnische Verfassungsgericht verdiene seinen Namen nicht, weil es ganz unter der Kontrolle der Regierung stehe.

Dunja Mijatovic, Menschenrechtskommissarin des Europarats, spricht von einem "traurigen Tag für die Frauenrechte"Bild: picture-alliance/dpa/MTI/L. Soos

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, sprach von einem "traurigen Tag für die Frauenrechte". Die Entscheidung des Verfassungsgerichts führe zu Abtreibungen im Untergrund und für jene, die es sich leisten könnten, im Ausland, twitterte sie. Für alle anderen bedeute das Urteil "noch größeres Leid".

Ein "politisches" Urteil

Die polnische Nichtregierungsorganisation Akcja Demokracja (Aktion Demokratie), die über 200.000 Unterschriften gegen das restriktive Gesetz gesammelt hat, bezeichnet die Gerichtsentscheidung als "ein beschämendes und von Rechtsfundamentalisten diktiertes politisches Urteil".

Die linke Politikerin Barbara Nowacka gibt den katholischen Bischöfen des Landes die Schuld. "Sie haben Blut an Ihren Händen", sagte sie auf einer Pressekonferenz im Parlament.

Marta Lempart, führende Frauenrechtsaktivistin, startete die Aktion "Sag, was du denkst". In 30 Sekunden langen Videobotschaften sollten die Polen ihre Meinung zum Urteil aufzeichnen und sie der PiS schicken. Lempart hofft auf die Solidarität von Frauenärztinnen und ermutigt Frauen, zur Abtreibung ins Ausland zu gehen. Polnische Frauenorganisationen haben dazu die Initiative "Abtreibung ohne Grenzen" gestartet.

Im Sinne der Kirche

Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Stanislaw Gadecki, hat das Urteil mit "großem Respekt" aufgenommen. "Kein Mensch mit reinem Gewissen darf einem anderen Menschen das Recht auf Leben nehmen, ganz besonders aufgrund seiner Krankheit", schrieb er in einer Erklärung.

Marta Lempart startete die Aktion "Sag, was du denkst"Bild: Privat

Auch Polens Präsident Andrzej Duda unterstützt die Gerichtsentscheidung. Mit ihr habe sich das Verfassungsgericht "auf die Seite des Lebens gestellt". Die "eugenische" Abtreibung sollte in Polen verboten sein.

Die rechtsradikale Partei Konfederacja spricht von einem "gerechten Urteil", das Menschenrechte schütze.

Gericht statt Parlament

Das Urteil ist ein Höhepunkt der Abtreibungsdebatte, die in Polen seit 30 Jahren geführt wird. Keine Regierung wagte es bisher, das ohnehin schon restriktive Abtreibungsgesetz zu verschärfen, weil das laut Umfragen eine überwiegende Mehrheit der Polen ablehnt.

Rückenwind bekommen die Abtreibungsgegner seit 2015, nachdem die rechtsnationale PiS die Parlamentswahlen gewonnen hatte. Allerdings war ihr erster Vorschlag zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes 2016 nach massiven Frauenprotesten vom Parlament abgelehnt worden.

Im Wahlkampf 2019 nahm die regierende PiS das Abtreibungsverbot in ihr Parteiprogramm auf und brachte den Gesetzentwurf direkt nach ihrem Wahlsieg wieder ins Parlament ein. Um den üblichen parlamentarischen Weg zu umgehen, hat sich eine Gruppe von 119 Abgeordneten der PiS und anderer rechtskonservativen Parteien mit ihrer Kritik an das höchste polnische Gericht gewandt, das nun die Abtreibung fast total verboten hat.

Mit diesem Rechtsweg zeigt PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, dass auch in Zukunft Gesetze, die im Parlament keine Mehrheit finden, von regierungsfreundlichen Richtern des Verfassungsgerichts durchgewunken werden könnten. Die für die nächsten Tage angekündigten Proteste werden teilweise eingeschränkt, weil die Regierung gerade scharfe Corona-Maßnahmen eingeführt hat.