Polen: Rund eine Million Menschen fordern den Machtwechsel
1. Oktober 2023"Hier ist die Nation, hier ist Polen", rief Donald Tusk, Kopf der liberalen Opposition, am Sonntag seinen Anhängern auf der Abschlusskundgebung nach dem "Marsch der Millionen Herzen" in Warschau zu.
Tusk bezeichnete den Demonstrationszug als ein Zeichen der polnischen Wiedergeburt. "Der Riese ist aufgewacht", sagte Tusk. Er rief die Menschen zur Teilnahme an der Parlamentswahl auf. "Das kann die wichtigste Wahl seit der demokratischen Wende von 1989 sein. Wenn wir nicht aufpassen, kann diese Wahl die letzte sein", warnte er. Seine Ansprache wurde immer wieder von Rufen "Wir werden siegen, wir werden siegen" unterbrochen.
"Ich liebe Polen", versicherte der Vorsitzende der liberalen proeuropäischen Bürgerplattform PO, dem das rechte Regierungslager Mangel an Patriotismus vorwirft. "Ich schwöre Euch, dass ich einen Tag nach der Wahl den polnisch-polnischen Bürgerkrieg beenden werde", versprach Tusk.
Wahlduell Tusk contra Kaczynski
Am 15. Oktober wird in Polen ein neues Parlament gewählt. Um den Sieg ringen Tusks PO, die als eine Koalition mit drei kleineren Gruppierungen, darunter den Grünen auftritt, und die rechtspopulistische europaskeptische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit PiS von Jaroslaw Kaczynski.
Die Teilnehmer zogen mit polnischen und europäischen Fahnen vom Zentrum der Hauptstadt zu einem vier Kilometer entfernten Platz im Norden Warschaus. Auf Spruchbändern standen Parolen wie "Kaczynski zur Rechenschaft ziehen" und "PiS muss die Macht abgeben", "Frauen an die Macht" oder "Auf die Freiheit nicht verzichten". Viele trugen ein weiß-rotes Herz aus Papier als Symbol der Opposition. Unter den Marschteilnehmern befanden sich auffallend viele Familien mit Kindern.
In der Menschenmenge fielen Teilnehmer mit rothaarigen Perücken auf. Sie reagierten damit auf die Beleidigungen seitens der PiS-Politiker, die Tusk abwertend als "rothaarig und gemein" diffamieren.
Nach Angaben der Rathausverwaltung nahmen am Marsch rund eine Million Menschen teil. Nach Berechnungen der Internet-Plattform Onet waren es bis zu 800.000.
PiS-Gegenveranstaltung mit antideutschen Ausfällen
Tusk warf den Regierungspolitikern vor, aus Angst vor dem Marsch aus Warschau geflüchtet zu sein.
In der Tat hat die Regierungspartei PiS von Jaroslaw Kaczynski eine Gegenveranstaltung in Kattowitz im Süden des Landes organisiert. Hinter verschlossener Tür versammelten sich dort etwa 15.000 Parteifunktionäre.
Die Auftritte der PiS-Politiker bei dieser Wahlveranstaltung waren von scharfen Attacken gegen Tusk und Deutschland geprägt. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sagte, die Menschen würden am Wahltag zwischen zwei Konzepten des Vaterlandes wählen: zwischen "der polnischen Vision von Kaczynski und der deutschen Vision von Tusk".
"Wollen wir, dass Polen vom politischen Staatsmann Jaroslaw Kaczynski, oder vom politischen Ehemann von Angela Merkel, Donald Tusk geführt wird?", fragte Morawiecki. "Es muss uns gelingen, Tusk zu vertreiben. Wohin? Nach Berlin" sagte Morawiecki. "Nach Berlin, nach Berlin", skandierten die Teilnehmer im Kattowitzer Kongresszentrum.
Kaczynski warnte vor der Rückkehr des "Tusk-Systems", das seiner Meinung "auf der Lüge" aufgebaut sei und den "Raub öffentlicher Mittel" zum Ziel habe. Die "totale Opposition" habe vor, die "Demokratie zu liquidieren und alle Spuren der Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen". Tusk-System bedeute in Wirklichkeit für Polen ein "deutsch-russisches Kondominium".
Die Linke geht mit Tusk, Dritter Weg geht auf Distanz
Am Marsch in Warschau beteiligten sich auch die Politiker der polnischen Linken, die bei der Parlamentswahl als „Neue Linke“ auftritt. Ihr Vertreter Wlodzimierz Czarzasty kündigte an, nach der Parlamentswahl zusammen mit Tusks Bürgerplattform eine Koalitionsregierung gründen zu wollen.
Zum demokratischen Lager gehört auch ein erst in diesem Frühling gegründetes Bündnis "Dritter Weg". Die Führungsfiguren der christlich-demokratische Koalition blieben der von Tusk organisierten Demonstration fern. Im Werben um die Wähler versucht das Bündnis "Dritter Weg", das programmatisch viele Ähnlichkeiten mit PO aufweist, sich vom stärkeren Partner abzugrenzen.
Wer profitiert vom Marsch in Warschau?
In den Umfragen behält die PiS einen leichten Vorsprung vor Tusks PO. Laut Meinungsforschungsinstituten hat aber Kaczynskis Partei keine Chance, allein die Regierung zu bilden. Zwischen den drei demokratischen Parteien PO, Neue Linke und Dritter Weg auf der einen Seite – und der PiS mit ihrem möglichen Partner, der libertären und ultrarechten Konfederacja (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit) auf der anderen Seite, besteht nach jüngsten Umfragen ein Patt.
Kann die Großdemonstration der liberalen Opposition zwei Wochen vor dem Urnengang einen neuen Schwung geben? Der Politologe Rafal Chwedoruk sieht in dem Marsch von Warschau einen Erfolg der Opposition. Er verwies auf die Rekord-Beteiligung, die "als ein Signal empfunden wurde, dass die Opposition ein Mobilisierungspotenzial hat". Die PiS konnte diesmal nicht mithalten – meinte der Wissenschaftler von der Warschauer Universität. Sein Berufskollege Antoni Dudek bewertete das Fernduell als unentschieden. Erst die neuen Umfragen werden in den nächsten Tagen zeigen, wer in den Augen der Wähler vom Duell am Sonntag wirklich profitiert hat.