Atomkraft statt Kohletropf
17. September 2012 Als es anfing, gelbes Gift über Osteuropa zu regnen, werkelte Taoteusz Pastusiak gerade in seinem kleinen Garten. Er bemerkte die merkwürdigen gelben Flocken, die langsam auf das Gras rieselten, war aber nicht sonderlich beunruhigt. Er arbeitete weiter. Es war das Jahr 1986, und im mehr als 1000 Kilometer entfernten Tschernobyl hatte eine Explosion das Atomkraftwerk auseinander gerissen. Pastusiak hatte keine Ahnung, dass sich eine radioaktive Wolke über Europa ausbreitete - auch über seinem Garten. Es dauerte noch fünf Tage, bis Pastusiak hörte, dass in "Tschernobyl irgendetwas passiert war". Aber dann, erzählt Pastusiak, "war es schon viel zu spät."
Zu spät, denn der radioaktive Regen, der sich von der Ukraine aus über Europa ausgebreitet hatte, war bereits durch Pastusiaks Haut gesickert. Der Regen, sagt Pastusiak, vergiftete sein Blut, fraß sich durch seinen Körper und zerstörte seine weißen und roten Blutkörperchen. Seitdem ist er äußerst anfällig für Infektionen und Krankheiten. Im Winter traut er sich kaum aus dem Haus. Er hat Angst vor den Erkältungen, vor denen sich sein Körper kaum schützen kann. Einmal, erzählt Pastusiak, hat sein Hausarzt ihm ein Medikament gegeben. "Er meinte: 'Das ist das stärkste Medikament, das es in Polen gibt. Wenn es nicht anschlägt, dann gibt es keine Hoffnung für dich'."
Rückkehr der Nuklearenergie
Pastusiak zuckt die Schultern. Die Medikamente schlugen an. Vor 15 Jahren zog der frühere Marineoffizier nach Kopalino, eine kleine Küstenstadt in Nordpolen. Er baute ein Haus mit einer Gästewohnung für Touristen. Doch eines Tages holte ihn das Gift wieder ein. Im letzten November rief der Dorfvorsteher ein Gemeindetreffen ein: Die polnische Regierung teilte den Bewohnern mit, dass sie das Naturschutzgebiet, das an Kopalino grenzt, als eines von drei möglichen Standorten für ein Atomkraftwerk auserkoren habe. Erste Probebohrungen sollen bereits in den kommenden Monaten stattfinden.
Polen hängt am Kohletropf; mehr als 90 Prozent seiner Energie wird durch Kohle produziert. Viele der Kohlekraftwerke sind veraltet, bei der Verbrennung werden große Mengen Treibhausgase frei. Bis 2030 sollen zwei Reaktoren zwölf Prozent von Polens Energie liefern und Polens Kohleabhängigkeit verringern. Es ist bereits das zweite polnische Nuklearprogramm. Nach dem Unfall in Tschernobyl wurden die Bauarbeiten an einem Reaktor abgebrochen, die längst überwachsene Bauruine in Zarnowiec wird ebenfall als ein möglicher Standort gehandelt.
Angst um das Naturreservat
Von Pastusiaks Haus sind es nur wenige Schritte zur Ostsee. Polnische und deutsche Autos säumen den schattigen Weg zum Naturreservat. Ein junges Paar verschwindet mit einem Picknick-Korb zwischen den Bäumen in Richtung der wandernden Sanddünen, die sich jedes Jahr einige Zentimeter ins Landesinnere fressen.
Wenn die Regierung ihre Pläne wahrmacht, werden die Bäume bald abgeholzt, erklärt Pastusiak. Der sandige Boden ist mit Kiefernzapfen übersät, die Ostsee schimmert hinter den Dünen hervor. Perfektes Kühlwasser für den Reaktor. "Das ist ein Naturreservat", sagt Pastusiak wütend. "Welche andere europäische Regierung würde hier bauen?"
Er wartet die Antwort nicht ab, sondern deutet zu einem kleinen Bungalow, bescheiden zwischen den Nachbarhäusern, unauffällig - bis auf ein riesiges Schild, das am Zaun befestigt ist: ein verzerrter Totenkopf, dessen schreiender Mund und Augen zu dem internationalen Symbol von Atomkraft verschmelzen. Daneben steht in schwarz: "Nie dla Atomu". "Die Leute wollen hier keine Atomkraft", so übersetzt Pastusiak das Schild.
Antiatom-Protest
Er muss es wissen. Schließlich wurde das Schild in seinem Wohnzimmer entworfen. An den Wänden hängen die Erinnerungen an seine Zeit auf See: ein riesiger, weißer Walknochen neben einem Angelhaken, ein Ölbild von der stürmischen See. Hier trifft sich die kleine Gruppe Aktivisten aus Kopalino jede Woche. Sie verschicken E-Mails, planen die nächste Unterschriftenaktion und besprechen ihre wachsenden Ängste.
"Die Regierung sagt immer nur: 'Keine Sorge, alles wird schon werden, macht euch keine Sorgen'", erzählt ein Ingenieur, der fließend Deutsch spricht. Er hat zehn Jahre an einer norddeutschen Universität gearbeitet und koordiniert den Austausch mit deutschen Aktivisten, die Dokumente liefern und auch mal zu Protestaktionen über die Grenze fahren. Er möchte seinen Namen lieber nicht nennen. Seine Partnerin ist wenig begeistert von seinem Aktivismus.
Manche Menschen in der Region hofften auf Arbeitsplätze, erzählt er im Gespräch mit der DW. "Aber viele haben Angst, dass das Kraftwerk unser Land wertlos macht und die Touristen vertreibt." Einige Dorfbewohner hätten keine Baugenehmigung und deshalb keinen Anspruch auf Entschädigung, ergänzt er.
Nuklear-Lobbyist
Die polnische Botschaft in Deutschland liegt in einem schattigen Villenvorort von Berlin. In einem holzvertäfelten Zimmer setzt Arkadiusz Roman vorsichtig seine goldumrandete Teetasse ab. Romans Aufgabe ist es zu erklären, warum die polnische Regierung, die ihr erstes Nuklearprogramm nach dem Unglück in Tschernobyl aufgegeben hatte, nun doch wieder nukleare Ambitionen verfolgt. Die Reaktoren, erklärt der Diplomat, würden Arbeitsplätze schaffen und Polens Kohleabhängigkeit verringern.
Er kann die Angst der Menschen gut verstehen, sagt er. "Ehrlich gesagt würde ich, ganz ursprünglich, auch Angst haben, wenn ein Atomkraftwerk in der Nähe meines Ortes gebaut werden sollte." Vor allem "nach dem, was in Fukushima passiert ist", fügt er noch hinzu.
Nach dem Unglück in Fukushima in Japan hat die deutsche Regierung beschlossen, ihre Atomkraftwerke abzuschalten, der letzte Reaktor wird 2022 vom Netz gehen. In einer Stellungnahme zum polnischen Programm bietet die Bundesregierung Polen einen Erfahrungsaustausch an, "um die Förderung erneuerbarer Energiequellen zu unterstützen und Alternativen zur Kernenergie evaluieren zu können."
Roman hat nach Fukushima etliche Überstunden einlegen müssen. Er hat Politiker getroffen, Bürgerinitiativen und Nuklearexperten. Ende des Jahres tritt er seinen nächsten Posten in Warschau an. Seinen Nachfolger erwarten wohl noch mehr Überstunden: "2013 werden wir den Investor und den Standort nennen", sagt er. Allein im letzten Jahr hätten besorgte Bürger aus Deutschland mehr als 30.000 Briefe an die Botschaft geschickt. Roman hat jeden Brief nach Warschau weitergeleitet.
Keine Tsunamis in der Ostsee
Roman sagt, es sei falsch, Atomkraftwerke zu dämonisieren. "In Japan gab es einen Tsunami, aber in der Ostsee gibt es keine Tsunamis. Und soweit ich weiß, haben die Russen in Tschernobyl irgendwelche Experimente durchgeführt." Es werde kein Fukushima an der Ostsee geben.
Mehrere europäische Länder betrieben schon seit Jahren Atomkraftwerke ohne irgendwelche Unfälle, darunter auch Deutschland. "Jedes Land hat das Recht auf seinen Energie-Mix, und das tun wir auch", macht Roman deutlich.
Selbstverständlich werde dieser Energie-Mix auch erneuerbare Energien beinhalten. Bis zu ein Viertel der Energie soll bis 2030 aus Wind, Sonne und Biogas produziert werden. Aber Katarzyna Guzek von Greenpeace in Warschau findet das nicht genug. Sie ist überzeugt, dass Polen sehr wohl energieunabhängig sein könne - auch ohne Atomkraftwerke. Statt in das "gefährliche Unterfangen Nuklearenergie" einzusteigen, solle die Regierung besser auf erneuerbare Energien setzen: "Es gibt einfach zu viele Risiken."
Diese Risiken bereiten Pastusiak schlaflose Nächte. Er hat Angst, dass sein Haus und sein kleines Tourismus-Unternehmen bald wertlos sein könnten, dass er seiner kleinen Tochter, die erst kürzlich eingeschult wurde, keine Zukunft bieten kann. Und dass es vielleicht eines Tages wieder gelbes Gift regnen könnte.