1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Polen streitet um Zahl der Corona-Toten

12. Januar 2022

Offiziell sind in Polen seit Beginn der Corona-Pandemie etwas mehr als 100.000 Menschen infolge von COVID-19 gestorben. Doch Experten meinen, die tatsächliche Zahl der Opfer sei weit höher.

Polen wird Hochrisikogebiet | Öffentlicher Nahverkehr in Krakau
Auch in Polen gilt im öffentlichen Nahverkehr MaskenpflichtBild: Beata Zawrzel/NurPhoto/picture alliance

100.254 Menschen sind in Polen seit Beginn der Corona-Pandemie infolge von COVID-19 gestorben. Das verkündete Gesundheitsminister Adam Niedzielski am Dienstag im Fernsehsender TVN24. Doch laut Krzysztof J. Filipiak, dem Rektor der privaten Medizinischen Hochschule in Warschau, liegt die Gesamtzahl der Toten weit höher: "100.000 ist eine falsche Zahl", sagt Filipiak im Interview mit dem polnischen Portal onet.pl.

Tatsächlich seien seit Beginn der Pandemie über 200.000 Menschen gestorben. "Die Hälfte davon sind bestätigte Fälle von COVID-19, die andere Hälfte sind entweder unbestätigte Fälle oder ‘kollaterale Todesfälle‘, die auf die Lähmung des Gesundheitswesens, die Unterlassung der Behandlung anderer Erkrankungen, die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zurückzuführen sind", so Filipiak.

Polens Gesundheitsminister Adam NiedzielskiBild: Piotr Polak/PAP/picture alliance

Filipiak weist darauf hin, dass Polen laut OECD im Jahr 2020 das am schlechtesten finanzierte Gesundheitssystem aller EU-Länder hatte und die wenigsten Ärzte pro 1000 Einwohnern beschäftigte: 2,4. In Deutschland seien es 4,2. Auch in der niedrigen Impfbereitschaft der Polen sehen viele Experten eine Ursache der hohen Corona-Todeszahlen. Laut der Regierung in Warschau wurden bisher knapp 21,3 Millionen Polinnen und Polen vollständig geimpft, das sind 55 Prozent der Bevölkerung. Rund 7,7 Mio oder 18 Prozent haben eine Booster-Impfung empfangen. In Deutschland sind 72 Prozent vollständig geimpft und 43,5 Prozent geboostert.

Von den 27 EU-Ländern liegen nur Kroatien, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien beim Impfen hinter Polen. Doch trotz zahlreicher Appelle seitens der Behörden und vieler bekannter Persönlichkeiten lassen sich viele Bürgerinnen und Bürger weiterhin nicht zum Impfen überreden. Nach Rekord-Tagen mit über 650.000 Impfungen im Juni und einer darauffolgenden steilen Talfahrt im Sommer ist der Impfwille im Herbst 2021 wieder gewachsen - doch die Zahl der Impfungen pro Tag überschreitet derzeit nur selten die 250.000er-Marke.

Kein Respekt vor Einschränkungen

Gründe, sich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu fühlen, haben Ungeimpfte in Polen kaum. Während überall in Europa im Dezember Weihnachtsmärkte abgesagt wurden, drängten sich die Menschen östlich der Oder auf Marktplätzen und an Glühweinständen. Auch zum Jahreswechsel wurde vielerorts groß gefeiert. Allein die Silvestershow des staatlichen Fernsehens TVP zog 16.000 Zuschauer an.

Kontrolle der Körpertemperatur bei der Einreise aus Polen nach Deutschland in Görlitz Bild: Florian Gaertner/photothek.net/picture alliance

Zwar veröffentlicht die Regierung regelmäßig "Informationen und Empfehlungen" zur Einschränkung von Kontakten - doch sie werden selten befolgt. In Restaurants, Bars und Kinos dürfen nur 30 Prozent der Plätze belegt werden - aber Geimpfte sind von dieser Regel ausgenommen, so die Webseite der Regierung. In der Praxis wird man in der Gastronomie, im Hotel oder im Fitnessclub meist nur höflich gefragt, ob man geimpft sei. Das liegt teilweise auch daran, dass rechtlich unklar ist, ob die Betreiber den Impfstatus ihrer Gäste überhaupt überprüfen dürfen.

Ein polnisches "Widerspruchs-Gen"?

Je größer die Stadt, desto williger sind die Menschen, die Corona-Maßnahmen zu befolgen. Doch schon in Ferienorten an der Ostsee oder im Gebirge in Südpolen sieht man volle Kneipen, in denen sich niemand für Impfung, Zertifikat oder Gesichtsmaske interessiert. In den östlichen Regionen des Landes ist man oft dem Spott der Einheimischen ausgesetzt, wenn man maskiert in ein Geschäft geht. Es liegt im Trend, die Existenz der Pandemie infrage zu stellen.

Polens stellvertretender Gesundheitsminister Waldemar KraskaBild: Rafa Guz/PAP/picture alliance

Polens stellvertretender Gesundheitsminister Waldemar Kraska sieht hier ein "Widerspruchs-Gen" am Werk, das vielen Polen innewohne. In einem Interview mit dem privaten Radiosender RMF im November 2021 führte er diese spezielle Prädisposition als Argument gegen einen Corona-Lockdown an: "Wenn wir (die Regierung, Anm. D. Red.) die bereits bestehenden Beschränkungen nicht durchsetzen, dann wird es nichts nutzen, wenn wir noch weitere einführen", so der Politiker. Die Polen seien nun mal "kulturell anders veranlagt" als die Menschen im Westen.

"Festival der COVID-Gegner"

Trotzdem fühlt sich die Mehrheit der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Warschauer Parlament angesichts der schnell steigenden COVID-Zahlen nun genötigt, zu konkreten Maßnahmen gegen die Pandemie zu greifen. Derzeit wird ein Gesetz diskutiert, das zumindest Arbeitgebern das Recht gibt, die Impfzertifikate ihrer Mitarbeitenden zu überprüfen. Die Gesetzvorlage war schon im November fertig - doch dann gab es Kritik nicht nur seitens der rechtsextremen Opposition, sondern auch aus der PiS selbst, in der es an Impfgegnern nicht mangelt.

Polens Präsident Andrzej DudaBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Zur Sitzung des Gesundheitsausschusses am 5. Januar 2022 wurden über 60 Verbände und Vereinigungen eingeladen, die meisten davon Impfskeptiker. Sie machten das Treffen zu einem "Festival der COVID-Gegner", wie kritische Medien süffisant kommentierten. Davon unberührt spricht sich auch Staatspräsident Andrzej Duda dafür aus, Impfskeptiker zu Wort kommen zu lassen.

Man müsse "verstehen, dass diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, ihre Ängste und Zweifel haben", sagte der Präsident Ende Dezember 2021 der Presseagentur PAP. "Der Mensch darf zweifeln und Angst haben", so Duda weiter. Auf die Frage, ob er das neue Gesetz unterschreiben werde, nachdem es im Parlament angenommen worden sei, antwortete er: "Das wird eine sehr schwierige Entscheidung."