Polen und die Brüsseler Töpfe
9. Januar 2016Wer heute nach Lodz fährt und das vielleicht zuletzt vor zehn oder zwanzig Jahren gemacht hat, wird die drittgrößte Stadt des Landes mitten in Polen nicht wiedererkennen. Am Bahnhof anzukommen ist nicht ganz einfach, der wird gerade umgebaut, unterirdisch: Kosten 500 Millionen Euro. Vier Fünftel davon kommen aus EU-Kassen. Weiter geht es mit der Straßenbahn, auch deren Netz wird gerade grunderneuert: Kosten 250 Millionen, dafür kommen sieben von zehn Euro aus den Brüsseler Töpfen. Dazu ein neues Museum, ein neues Wissenschaftszentrum.
So geht das seit Jahren, nicht nur in Lodz. Im ganzen Land wuchs etwa das Autobahnnetz von früher 765 auf fast 3.000 Kilometer. Seit zwei Jahren sind zum ersten Mal Hochgeschwindigkeitszüge in Polen unterwegs, sozusagen ein Symbol für den nunmehr jahrelangen, durchschlagenden Erfolg der polnischen Wirtschaft. Aber eben auch als Symbol für die Unterstützung durch EU-Mittel, ohne die, da sind sich Experten einig, diese Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen wäre.
Wachstum, Wachstum, Wachstum
Der Erfolg hat viele Gesichter: Seit mehr als zehn Jahren wächst die polnische Wirtschaft ununterbrochen. Auch durch die große Finanzkrise nach 2008 ließen sich die Polen nicht ausbremsen, anders als alle anderen in der EU. Seit dem EU-Beitritt des Landes 2004 lag das Wachstum im Plus, in der Spitze auch mal bei 7,2 Prozent. Im letzten und in diesem Jahr dürften es um die 3,5 Prozent sein. Die Arbeitslosigkeit sackte von zwanzig auf rund acht Prozent. Auch bei den armen Bauern kam der Erfolg an: Ihr Einkommen hat sich seit 2004 verdoppelt.
Auch das nicht zuletzt dank der EU-Subventionen: Seit dem Beitritt erhielt Polen 30 Milliarden Euro an Strukturhilfen allein für seine Landwirtschaft. Polen ist der größte Nettoempfänger unter den Ländern der EU - in den vergangenen zehn Jahren flossen insgesamt 80 Milliarden Euro aus EU–Kassen nach Polen. In den kommenden zehn Jahren sollen es weitere 82,5 Milliarden Euro sein.
Krise? Welche Krise?
Und wie finden die Polen das alles? 58 Prozent finden, dass ihr Land in einer wirtschaftlichen Krise stecke. Kaum zu glauben, aber Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS aus dem vergangenen Herbst. Da hatte die PiS, die konservative Partei unter ihrem Chef Jarosław Kaczyński, gerade die Wahlen gewonnen. Und die neue PiS-Regierung von Kaczyńskis Gnaden gefällt sich nun mit der Ansage, erst sie werde für einen Aufschwung der Wirtschaft sorgen und für nachhaltiges Wachstum.
Die Antwort der Wirtschaft kann man an der Warschauer Börse begutachten, dem bisher dynamischsten Handelsplatz in der Region. Seit der Wahl des Kaczyński-Kandidaten Duda zum Staatspräsidenten im Mai hat der wichtigste polnische Aktienindex WIG 20 nicht weniger als 30 Prozent verloren. Die Resultate der Parlamentswahlen verstärkten den Trend noch. Der polnische Arbeitgeberpräsident Andrzej Malinowski warnte schon im Oktober in der deutschen Presse: "Unsere Erfolge dürfen jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden, denn wir haben hart dafür gearbeitet."
Polen ist also offenbar auch in Wirtschaftsfragen ein gespaltenes Land. Mehr als ein Drittel der Wähler hat der Schwarzmalerei der PiS geglaubt und ihrem Lager im Parlament die absolute Mehrheit geschenkt - auch wenn bei einer Wahlbeteiligung von gut 51 Prozent sich in der Tat nur rund 19 Prozent der Polen für die PiS ausgesprochen haben. Nicht zuletzt "hat das polnische Dorf den Versprechungen der PiS geglaubt", so ein Beobachter.
"Müllverträge" und andere Probleme
Der polnische Erfolg hat natürlich auch seine Kehrseite. Die Gehälter der Polen sind immer noch deutlich niedriger als in Westeuropa, rund zwei Millionen Polen sind zum Arbeiten im Ausland. Im Osten und Südosten des Landes liegt die Arbeitslosenquote immer noch bei 20 Prozent. Und dann sind da noch die "Müllverträge", Verträge für Zeitarbeit mit so schlechten Bedingungen, dass jeder sie unter dieser Bezeichnung kennt - 1,4 Millionen Polen sind davon betroffen.
Das ist der Boden für die Wahlversprechungen, die der Regierungsbildung der PiS vorausgingen: ein Mindestlohn von umgerechnet zwei Euro für Geringverdiener, erstmals in der Geschichte ein Kindergeld, freie Arzneimittel für alte Leute und für alle Steuerfreibeträge von umgerechnet 2.000 Euro.
Teure Wahlversprechen
Wie das bezahlt werden soll? Experten schätzen, dass all die Versprechungen mit fast zehn Milliarden Euro zur Buche schlagen werden, bei einem Staatshaushalt von gerade mal 80 Milliarden Euro. Bereits beschlossene Sache ist eine Bankensteuer von 0,44 Prozent der jährlichen Bilanzsumme, mehr als irgendwo sonst in Europa. Höher besteuern will die neue konservative Regierung auch internationale Handelsketten. Und dann rechnet die Regierung wegen ihrer besseren Wirtschaftspolitik mit besseren Steuereinnahmen und hat im Wahlkampf zu verstehen gegeben, sie könne noch mehr als bisher aus den EU-Töpfen herausholen.
Das wird nicht ganz einfach werden. Am 17. Januar will sich die EU-Kommission in Brüssel mit der polnischen Frage befassen. Dabei wird es nicht um Wirtschafts- oder Budgetfragen gehen, sondern um den Rechtsstaat. Die Frage steht im Raum, ob in Polen durch die ersten Schritte der neuen Regierung die Rechtsstaatlichkeit im Land gefährdet ist. Die Debatte ist die Vorstufe zu einem neuen Verfahren, im Vordergrund steht dabei zunächst der Dialog mit dem betroffenen Land. Im Extremfall aber könnte Polen am Ende eines langen Verfahrens das Stimmrecht in der EU entzogen werden. Das sieht nicht nach leichterem Zugang zu den Brüsseler Töpfen aus.
ar/zdh (rtr, afp, Archiv)