1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Wenig Solidarität an Polens Grenze zu Belarus

20. September 2022

Die Welt bewundert Polens Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. An der Grenze zu Belarus dagegen werden Migranten mit demonstrativer Härte behandelt. Menschenrechtler helfen den Notleidenden.

Ein kleines Mädchen sitzt in einem verschmutzten Winteranzug in einem Zeltlager auf einem Baumstamm
Migranten in einem Zeltlager an der polnisch-belarussischen Grenze im Winter 2021/2022Bild: Oksana Manchuk/BelTA/TASS/picture alliance/dpa

Katarzyna Wappa stammt aus Hajnowka in Ostpolen, unweit der Grenze zu Belarus. Die Englischlehrerin kehrte nach dem Studium an ihren Geburtsort zurück und engagiert sich seit Jahren für den Naturschutz und gegen Rechtsradikale. Der Bialowiezer Urwald beginnt vor ihrer Haustür. Im September vergangenen Jahres merkte die Mutter zweier Töchter, dass in ihrem Wald "etwas nicht stimmt". Auf einmal tauchten zwischen den Bäumen fremde Menschen auf - erschöpft, abgemagert, oft krank und unterkühlt: Flüchtlinge, die über die belarussische Grenze gekommen waren.

An der Grenze zwischen Polen und Belarus ist der Bialowiezer Urwald ein unwegsames SumpfgebietBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Im Herbst 2021 begann das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko, diese Migranten als politische Waffe gegen die EU einzusetzen. Menschen aus dem Irak, Afghanistan oder Syrien, die mit dem Flugzeug nach Belarus gekommen waren, wurden ins Grenzgebiet zu Polen gebracht und zum illegalen Grenzübertritt gezwungen. Warschau reagierte mit Härte, verlegte starke Polizei- und Militäreinheiten in die Region und richtete eine Verbotszone ein, die verhindern sollte, dass jemand den Sicherheitskräften auf die Finger schaut.

Lokale Aktivisten helfen

Sehr schnell gründeten lokale Aktivisten, darunter Wappa, eine Hilfsgruppe. Sie suchten im Urwald gestrandete Migranten und leisteten erste Hilfe. "Wir mussten oft Ärzte, Rechtsanwälte, Krankenpfleger und sogar Babysitter ersetzen", erinnert sich Wappa. "Einmal trug ich einen Mann, der im Sterben lag, auf meinen Armen aus dem Wald. Wir haben ihn im letzten Augenblick gerettet", erzählt die Aktivistin. Ein anderes Mal schenkte sie einem barfüßigen Flüchtling ein Paar Schuhe.

Als eine der wenigen Beteiligten zeigte Wappa öffentlich ihr Gesicht - eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen. Nach einem Fernsehbericht über sie wurde ihr Facebook-Konto von Hassnachrichten überflutet. Staatsmedien diffamierten sie, Begegnungen mit Sicherheitskräften eskalierten.

Die polnische Menschenrechtsaktivistin Katarzyna Wappa im Grenzgebiet zu Belarus

"Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich sah, wie einmal vier bewaffnete maskierte Soldaten auf mich zuliefen", berichtet sie, und der Schreck ist ihr noch deutlich anzumerken. "Ein anderes Mal wurde mein Auto von der Polizei gestoppt. Die Beamten schlugen mit den Fäusten aufs Dach und machten schrecklichen Lärm. Meine Kinder begannen zu weinen. Ich flehte sie an, aufzuhören, aber vergeblich", erzählt Wappa und fügt hinzu: "Wir mussten die geretteten Flüchtlinge vor den Sicherheitskräften verstecken, damit sie nicht auf die belarussische Seite zurückgeschoben wurden."

Obwohl solche "Pushbacks" illegal seien, würden sie in Polen praktiziert, sagt die Aktivistin, die Ende August 2022 in Danzig für ihr Engagement einen Preis der polnischen Stiftung Grand Press bekommen hat.

Regierung diffamiert Flüchtlingshelfer

Der Hass gegen sie und andere Menschenrechtsaktivisten wird von der Regierung in Warschau geschürt. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) setzt seit ihrem Wahlsieg im Herbst 2015 ihre rechtspopulistische Agenda ohne Rücksicht auf Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten um. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde massiv eingeschränkt, das Abtreibungsrecht verschärft, LGBTQ-Menschen werden ausgegrenzt und beschimpft, und Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika als Terroristen diffamiert. Diese Politik hat in Polen viele Befürworter. Es gibt aber auch mutige Bürgerrechtler, die sich mit den Menschenrechtsverletzungen nicht abfinden wollen.

Eine von ihnen ist die Anwältin Marta Gorczynska. Sie half bereits während ihres Jura-Studiums als Freiwillige in einer Stiftung Migranten aus Somalia. Vor zehn Jahren stieg sie bei der Helsinki Foundation for Human Rights in Warschau ein. Als sie im Herbst 2021 aus den Medien erfuhr, dass an der polnisch-belarussischen Grenze Flüchtlinge aus Afghanistan seit Tagen ohne Wasser und Nahrung ausharren, dachte sie: "Vielleicht kann meine Erfahrung dort hilfreich sein" und machte sich auf den Weg.

Rechtsanwältin Marta Gorczynska erhält am 3.9.2022 in Frankfurt/Main den Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYLBild: Wiebke Rannenberg/PRO ASYL

Vor Ort entstand spontan die "Grupa Granica" (Gruppe Grenze) mit dem Ziel, Migranten zu schützen, die "Opfer der unmenschlichen Politik der Regierungen von Belarus und Polen geworden sind", so Gorczynska. "Ich bin in den Urwald gekommen, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und Rechtsbeistand zu leisten", erklärt die Anwältin. Bald habe sich aber herausgestellt, dass viele Flüchtlinge zuerst einmal eine warme Decke und etwas zu essen brauchten. Sie wirft den Behörden vor, den Dialog mit Nichtregierungsorganisationen zu verweigern. "Der polnische Staat hat die Prüfung nicht bestanden", so ihr Urteil. "Stattdessen werden wir als Verräter und Feinde des Vaterlandes diffamiert."

Erfolgsmomente gibt es selten, Trauer dagegen ist an der Tagesordnung. Die Behörden sprechen offiziell von 16 Todesfällen an der Grenze. Nach Erkenntnis der Anwältin sind es aber mindestens 20 und wahrscheinlich viele mehr. "Wer Recht auf Asyl hat und wer nicht, ist eine andere Frage. Wir können aber nicht zulassen, dass die Menschen an der Grenze leiden und sterben", so ihr Credo.

Für ihren Einsatz wurde Gorczynska Anfang September 2022 durch die Stiftung Pro Asyl mit dem Menschenrechtspreis geehrt. Die Laudatio sprach die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen).

Wo bleibt die katholische Kirche?

Jakub Kiersnowski leitet den Club Katholischer Intelligenz (KIK), eine angesehene Organisation, die mehr durch Vorlesungen und Treffen mit Prominenten bekannt ist, als durch spektakuläre Aktionen. "Wir konnten nicht untätig bleiben", betont der 40-jährige Sonderpädagoge. Seinem Aufruf zur Hilfe folgten im letzten Jahr hunderte Mitglieder. Innerhalb einer Woche wurde in Ostpolen eine Hilfsstelle eingerichtet, und am 16. Oktober 2021 kam es zum ersten Einsatz an der Grenze.

Der Vorsitzende der angesehen katholischen Organisation KIK setzt sich für Flüchtlinge einBild: Jacek Lepiarz

Kiersnowski macht keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über die katholische Kirche. Zwar rief ein zuständiger Bischof zur Hilfe für die Migranten auf, aber ein direktes Engagement der Kirche blieb aus. Nach Meinung Kiersnowskis liegt das an der Nähe der Kirche zur PiS. "Schade, dass sich die angehenden Priester an der Hilfsaktion nicht beteiligen. Einem Flüchtling die Füße zu waschen, wäre das Evangelium in die Praxis umgesetzt", meint er.

Auch KIK-Mitglieder bekamen die Schikanen der Staatsmacht zu spüren. Im Dezember 2021 nahm die Polizei vier Freiwillige fest und stürmte die KIK-Hilfsstelle. Es folgte ein Verfahren wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt, das erst Ende Juni 2022 eingestellt wurde. Im vergangenen März wurde eine 20-jährige Aktivistin festgenommen und in Handschellen abgeführt.

Der Grenzzaun zwischen Polen und Belarus ist zwar hoch, aber für verzweifelte Flüchtlinge nicht unüberwindbarBild: Michal Dyjuk/AP Photo/picture alliance

Seit Sommer 2022 steht an der polnisch-belarussischen Grenze eine fünfeinhalb Meter hohe Mauer. Trotz dieser Sperre passieren täglich mehrere Dutzend Migranten die Grenze. "Die Mauer hat das Problem nicht gelöst, sondern es noch verschärft", sagen Menschenrechtler. "Wir stellen fest, dass immer mehr Flüchtlinge Bein- und Armbrüche aufweisen, die sie sich beim Überwinden der Sperre geholt haben."

Die Aktivisten bereiten sich bereits auf den nächsten Winter vor, denn der kommt bestimmt - und mit ihm neues Elend und neue Gefahren für die Flüchtlinge an der Grenze.

Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.