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Politik

Polens Zivilgesellschaft ist erwacht

Paul Flückiger Warschau
9. August 2017

Die Proteste gegen die verfassungswidrige Justizreform in Polen haben die Schwäche der Oppositionsparteien gezeigt. Die jungen Demonstranten vertrauen den Liberalen nicht. Ihre einzige Autorität bleibt Lech Walesa.

Polen Demonstrationen in Warschau
Bild: DW/R. Romaniec

Parteichefs wurden fast ausgebuht, KOD-Gründer Mateusz Kijowski sogar vor dem Sejm verjagt. Der Hauptfeind der jüngsten Proteste in Polen war zwar Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS). Vor dem größten Protestmarsch zum Präsidentenpalast wurden aber auch die Oppositionsparteien gebeten, nicht mit ihren Parteiemblemen und Flaggen mitzumachen.  

Die beiden liberalen Oppositionsparteien Bürgerplattform (PO) und die Modernen (polnisch: Nowoczesna) sowie die kleine Bauernpartei PSL sind im Parlament seit dem Wahlsieg von Kaczynskis PiS Ende 2015 marginalisiert. Die PiS hat nicht nur die absolute Mehrheit in beiden Kammern, deren Vorsitzende schließen die Opposition immer wieder von den Beratungen aus. Nun haben die Demonstrationen gezeigt, dass auch Polens Zivilgesellschaft genug von dieser Opposition hat.

Dazu beigetragen hat die Arroganz der Macht in den letzten acht Regierungsjahren der PO. Auch fehlt deren Parteichef Grzegorz Schetyna die zur Schau gestellte Umgänglichkeit eines Donald Tusk. Auch die Modernen, die sich vor den Wahlen von der PO abgespalten hatten, sind den negativen Beigeschmack der PO-Regierungsjahre nicht losgeworden. Zudem haben auch kleinere Skandale rund um Parteichef Ryszard Petru an der Glaubwürdigkeit der jungen liberalen Partei gesägt.

Aufbruchstimmung in der Zivilgesellschaft

Doch die Proteste gegen Kaczynskis Justizreform von Ende Juli haben gezeigt, was für ein großes zivilgesellschaftliches Potenzial in Polen bisher brach lag. "Zum ersten Mal haben so viele junge Polen ohne parteipolitische Bindung an Protesten teilgenommen", sagt der Politologe Filip Pazderski bei einem Gespräch im Warschauer "Institut für öffentliche Angelegenheiten" (ISP). Er betont, dass die Proteste - die zum Veto des Staatspräsidenten gegen zwei von drei demokratiefeindlichen Reformgesetzen führten - unabhängig von den Parteien organisiert worden sind.

Viele junge Polen engagieren sich in der neuen Protestbewegung Bild: DW/R. Romaniec

Eine große Rolle spielten dabei die sozialen Netzwerke - ähnlich wie bei der Maidan-Revolution von 2014 in der Ukraine. Diese hatte als Studentenprotest begonnen; erst später gesellten sich die demokratischen Oppositionsparteien zu den Demonstranten. Polnische Soziologen betonen, dass sich Ende Juli völlig neue Kräfte zu den Antiregierungsprotesten gesellt haben. "Einzig beim sogenannten Schwarzen Protest gegen das generelle Abtreibungsverbot gab es eine ähnliche Mobilisierung", sagt Pazderski. Allerdings gingen im Oktober 2016 deutlich weniger Polen auf die Straße. Auch erstreckte sich die Protestwelle nicht bis in die Kleinstädte.

Aus Pazderskis Sicht haben die Sommerferien der neuen Protestwelle sogar geholfen: "Kaczynski hat sich hier total verrechnet." Erneut hatte die PiS versucht, umstrittene Gesetzesnovellen in der Nacht und zur Urlaubszeit durchzuboxen. Doch dies erboste diesmal die vom ewigen Parteiengezänk angewiderten jungen Polen. Im Handumdrehen entstanden Facebookprofile, plötzlich wurde es modern, auf Snapchat von den Protesten zu berichten. Dabei sei es von Vorteil gewesen, dass viele Polen frei hatten, sagt Pazderski.

Lech Walesa bleibt eine Autorität

Die neuen Proteste haben junge, weltoffene Polen angezogen, die die sozialistische Volksrepublik nur vom Hörensagen her kennen, den Arbeiterhelden und späteren Staatspräsidenten Lech Walesa aber als Autorität anerkennen. Vielen stößt der Versuch der PiS auf, Walesa als angeblichen früheren Spitzel zu diffamieren und aus den Geschichtsbüchern zu verbannen.

Die Ankündigung Walesas, auf den Gegendemonstrationen zum PiS-Monatsgedenken an den Flugzeugabsturz von Smolensk (2010) aufzutreten, mobilisiert viele. Doch möglicherweise wird Walesa aus gesundheitlichen Gründen absagen, berichtet ein polnischer Radiosender. Walesa war im Juli überraschend mit Herzproblemen ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Lech Walesa bei den Protesten gegen die umstrittene Justizreform im Juli Bild: picture alliance/NurPhoto/M. Fludra

Die Gegendemonstrationen dürften diesmal dennoch mehr Protestierende anziehen als bisher. Walesa und der bekannte einstige Solidarnosc-Aktivist Wladyslaw Frasyniuk hatten die Polen zu dieser Art von Protest gegen Kaczynski aufgerufen. Organisiert werden die Gegendemonstrationen bisher von der Bürgerbewegung "Obywatele RP".  

Neue Initiativen ersetzen KOD

Sie gehört zu den bekanntesten neuen Bürgerinitiativen. Doch an der Organisation der neuen Proteste gegen die Justizreform waren mehrere Bewegungen beteiligt. Ständig entstehen neue Organisationen -  gegründet auch von jungen Polen. Das "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (KOD), das ab Ende 2015 die Proteste gegen die Blockierung des Verfassungsgerichts anschob, steckt hingegen in einem Auflösungsprozess. Der umstrittene KOD-Gründer Mateusz Kijowski, der sich angeblich Spendengelder zugeschanzt hat, wurde auf den Juli-Demos sogar ausgebuht. Die KOD-Märsche haben vor allem ältere Dissidenten und Polen um die fünfzig angezogen, die aktuelle Protestwelle ist nun durch einen massiven Zustrom von Jugendlichen in eine neue Phase gekommen. Als Koordinatoren mit großem Mobilisierungspotenzial sind feministische Initiativen wie die Gruppe "Frauenstreik" aufgefallen, die bereits beim "Schwarzen Protest" sehr aktiv waren.

Die verschiedenen demokratischen Initiativen haben inzwischen begonnen, eine gemeinsame Organisationsplattform aufzubauen, zu der zunächst auch die Oppositionsparteien eingeladen sind. "Der Erfolg der Protestbewegung hängt von der Reaktion der etablierten Parteien ab", sagt Pazderski. Im Gegensatz zur Zusammenarbeit mit der KOD wird diesmal von den Parteien weniger Dominanzgebaren erwartet. Sicher ist bisher einzig, dass die PiS bald neue Fronten eröffnen wird. So sollen die privaten Medienhäuser im Herbst "re-polonisiert" und die NGOs ähnlich wie in Ungarn an die Kandare genommen werden. Zuerst allerdings muss Staatspräsident Andrzej Duda zwei neue Gesetzesvorschläge zur Justizreform ans Parlament überweisen. Polen steht also ein heißer Herbst bevor.    

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