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Politik

Politik und Justiz streiten wegen Sami A.

16. August 2018

Der Tunesier wurde eilig abgeschoben, dann ordnete ein Gericht an, ihn nach Deutschland zurückzuholen. Die ranghöchste Richterin in Nordrhein-Westfalen erhebt schwere Vorwürfe. Ministerpräsident Laschet kontert.

Deutschland Flughafen Düsseldorf
Ein Passagiertunnel am Flughafen Düsseldorf am Tag der Abschiebung von Sami A.Bild: picture-alliance/dpa/R. Vennenbernd

Nach dem richterlichen Beschluss, dass der abgeschobene Sami A. zurückgeholt werden muss, wächst der Druck auf die Politik. Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Münster, Ricarda Brandts, glaubt, mit der Abschiebung des als Gefährder eingestuften Tunesiers "wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet".

Informationen wurden zurückgehalten

Dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seien bewusst Informationen vorgehalten worden, um eine möglicherweise störende rechtzeitige Entscheidung zu verhindern. Die Behörden hätten während der Abschiebung mit "halben Wahrheiten" agiert, sagte Brandts. Sie rate ihren Kollegen in den Gerichten dazu, sich vorerst nicht mehr in jedem Fall auf Stillhaltezusagen der Behörden zu verlassen.

Sami A. war am 13. Juli nach Tunesien abgeschoben worden, obwohl das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen noch am Vortag eine Abschiebung untersagt hatte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte am selben Tag dem Gelsenkirchener Gericht schriftlich zugesichert, Sami A. könne im Falle einer bevorstehenden Abschiebung einen Antrag auf Eilrechtsschutz einreichen. Nach Ansicht des BAMF war über diese Anordnung hinaus eine Stillhaltezusage der Behörden nicht mehr erforderlich - abgeschoben wurde Sami A. trotzdem.

Der Rechtsstaat schützt auch seine Gegner

Brandts sagte, der Fall werfe Fragen zu Demokratie und Rechtsstaat, insbesondere zu Gewaltenteilung und effektivem Rechtsschutz auf. "Der Rechtsstaat muss sich insoweit durchsetzen, dass auch Gefährder, Straftäter und Terroristen einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und auf Achtung ihrer Menschenwürde haben", sagte die ranghöchste Richterin Nordrhein-Westfalens. Ein Rechtsstaat bewahre sich gerade dadurch, das er auch die Rechte von Minderheiten schütze, sogar die Rechte derjenigen, die den Rechtsstaat selbst nicht achteten.

Schuldzuweisungen der Politik

Dagegen sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) der Rheinischen Post, Richter sollten im Blick haben, "dass ihre Entscheidungen auch dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen". Reul sagte weiter: "Ich zweifle, ob das bei diesem Beschluss der Fall ist." Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, "ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen". Der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, kritisierte Reuls Äußerungen als "höchst unangemessen".

Stellvertretender NRW-Ministerpräsident Stamp (FDP, links) und Justizminister Biesenbach (CDU, rechts) im Juli bei einer Sondersitzung des Rechtsausschusses zum Fall Sami A.Bild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Für den stellvertretenden Ministerpräsidenten Joachim Stamp (FDP) wird es zunehmend ungemütlich: Erste Oppositionspolitiker forderten den Integrationsminister, der Verantwortung für die eilig und ohne Kenntnis der Richter durchgeführte Abschiebung übernommen hatte, zum Rücktritt auf. Oppositionsführer Thomas Kutschaty (SPD) warf Stamp im Deutschlandfunk vor, er habe "ganz bewusst" versucht, die Justiz zu täuschen. Er forderte eine Entschuldigung der Landesregierung.

Laschet stützt seinen Minister

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verteidigte Stamp. Dieser habe in seiner Funktion als NRW-Integrationsminister "nach Recht und Gesetz" gehandelt. "Hier geht es um einen seit elf Jahren ausreisepflichtigen Gefährder, einen Mann, der auf der Topliste der Gefährder der Bundesrepublik Deutschland steht", sagte Laschet im Deutschlandfunk. Zugleich erklärte er, der Entscheidung des Gerichts Folge zu leisten.

Stamp lehnte einen Rücktritt ab. "Den Vorwurf, ich hätte das Gericht getäuscht, weise ich entschieden zurück", sagte er in Düsseldorf. Er sehe keinen Anlass, Rücktrittsforderungen nachzukommen, fügte Stamp auf eine entsprechende Frage hinzu. Es seien in dem Fall aber "Informationsdefizite" zu beklagen, räumte der FDP-Politiker ein. Er wolle sich nun für eine Verbesserung der "Kommunikationskultur" zwischen Behörden und Justiz einsetzen. Stamp räumte zudem auch einen Fehler ein. Er hätte sich am Morgen der Abschiebung am 13. Juli rückversichern müssen, ob seine Annahme zutreffe, dass es gegen internationales Recht verstoße, das Flugzeug mit Sami A. an Bord aus Tunesien nach Deutschland zurückzuholen. "Mit dem Wissen von heute bedauere ich dies."

Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki warf indes Bundesinnenminister Horst Seehofer "unglaubliches Versagen" vor. Das ihm unterstellte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe es bis heute versäumt, die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geforderte Verbalnote herbeizuschaffen, "wonach garantiert wird, dass Sami A. in tunesischen Gefängnissen nicht gefoltert wird".

Wie geht es nun weiter?

Das Oberverwaltungsgericht in Münster hatte als letzte Instanz entschieden, dass die Abschiebung unrechtmäßig war und Sami A. deshalb nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Zwar könnte die Stadt Bochum noch vor das Bundesverfassungsgericht ziehen - das hätte allerdings keine aufschiebende Wirkung für die Rückholung.

Noch ist jedoch unklar, wie der abgeschobene Gefährder Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden kann: Die tunesischen Behörden halten weiterhin den Pass des 42-Jährigen zurück. Die Justiz des nordafrikanischen Landes verwies auf die Souveränität Tunesiens und erklärte, sie behalte sich vor, selbst über ihre Bürger zu urteilen. Die Stadt Bochum hat der Anwältin ihres früheren Bewohners eine Kostenzusage für den Rückflug gegeben. Ein Sprecher sagte, mehr könne die Stadt nicht tun.

ehl/haz/kle (dpa, afp, rtr, OVG Münster)