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PolitikNahost

Politischer Spielball: Flüchtlinge aus Nahost in Litauen

Abbas Al-Khashali | Hamza al-Shawabkeh
17. August 2021

Angelockt von Belarus, sitzen in Litauen zahlreiche Flüchtlinge fest: viele Iraker sowie Menschen aus Syrien, Afghanistan und afrikanischen Ländern. Abbas al-Khashali und Hamza al-Shawabkeh haben sie vor Ort besucht.

Rudninkai Flüchtlingscamp
Bild: Hamzah alshwabkeh

Rund vierzig Minuten dauert die Fahrt aus dem Zentrum von Vilnius zum Erstaufnahmelager Rudninkai. Die Strecke verläuft über zahlreiche Abbiegungen, mehrmals halten wir an, um Einheimische nach dem Weg zu fragen. Schließlich parken wir den Wagen am Rand eines Waldes und folgen einem ausgetretenen Pfad durch das Unterholz, der direkt zum Camp führt.

Sofort kommt ein Wachmann auf uns zu. Was wir hier wollten, will er wissen. Wir, zwei Journalisten aus dem Nahen Osten, sehen den im Lager lebenden Personen wohl recht ähnlich, nur unsere europäische Begleiterin sieht deutlich anders aus. Wir seien Journalisten und wollten über das Lager berichten, erklären wir. Ein weiterer Mann prüft unsere Papiere. Ohne Autorisierung durch das Innenministerium dürften wir das Lager nicht betreten, erklärt er. Drei Stunden warten wir auf das OK aus Vilnius, dann endlich können wir das von einem eisernen Zaun umgebene Lager betreten.

Dort stehen Wohnwagen und Zelte, die wir - so heißt es - aus Sicherheits- und Hygienegründen jedoch nicht von innen sehen dürften. Von den Migranten trennt uns ein weiterer Zaun. Die meisten kommen aus Nahost, einige auch aus Afrika. Ihre Kleidung ist abgetragen und schmutzig, die Gesichter schauen müde aus. Die meisten Insassen sind männlich und zwischen 20 und 30 Jahre alt.

Die vielen Iraker im Lager schimpfen zunächst über soziale Ungerechtigkeit sowie das autoritäre Gehabe von Politikern und Milizen daheim. Einer beschimpft einen prominenten irakischen Politiker, ein anderer nimmt diesen in Schutz und beschuldigt andere. Mitten im litauischen Wald entbrennt eine Diskussion über Korruption im Irak. Die meisten der jungen Männer hatten im Herbst 2019 an den teils gewaltsam niedergeschlagenen Protestkundgebungen für einen politisch unabhängigen Irak teilgenommen. Auch gegen die Korruption waren die Menschen damals auf die Straße gegangen.

Warten auf die Zukunft: Szene aus dem Flüchtlingslager Rudninkai.Bild: Abbas Alkhashali/DW

Gezeichnet fürs Leben

Ahmed, ein junger Mann aus Kerbala, hat Wunden am ganzen Körper. Vor sechs Jahren sei er in Bagdad von Teilen einer Autobombe getroffen worden, erzählt er. Dabei habe er ein Auge verloren. Das andere Auge blickt uns traurig entgegen. So traurig, wie auch seine Stimme klingt.

Der 21 Jahre alte Abdullah hingegen leidet seit frühesten Lebensjahren an einer starken Schuppenflechte. Die Ekzeme bedecken fast seinen gesamten Körper.

Ein weiterer Flüchtling leidet an Muskelschwäche. Ebenso wie sein Bruder, erklärt er uns. Der liege im Zelt und könne sich gar nicht mehr bewegen.

Wir fragen uns: Was wird nun aus diesen Menschen?

Spielball der Politik

Die meisten wollen nur eines: in die EU, nach Europa. Doch Europa zögert, sie hineinzulassen, auch Litauen als Grenzwächter ist zögerlich, als kleines Land mit derart vielen Einreisebegehren nicht zuletzt auch überfordert. Er sei sich der schwierigen Situation dieser Menschen durchaus bewusst, sagt Litauens Vize-Innenminister Arnoldas Abramavicius vor Ort im DW-Interview. Zugleich klagt er darüber, dass Reiseagenturen im Nachbarland Belarus (Weißrussland) bewusst Iraker anlockten, um sie von Minsk aus absichtlich in Richtung Baltikum beziehungsweise EU-Grenze weiterziehen zu lassen. Belarus verbreite gezielt "Fake News" über Minsk als geeignete Einfallstür für Flüchtlinge in die benachbarte EU - und setze damit Litauen und andere EU-Länder gezielt unter Druck.

Was das Schicksal der Menschen betreffe, so sei Litauen um Verbesserungen bemüht, beteuert der Vize-Minister. So habe man mit der Regierung in Bagdad vereinbart, sich verstärkt um die irakischen Flüchtlinge zu kümmern - sobald die Flüge mit Flüchtlingen von Bagdad nach Minsk eingestellt würden. Tatsächlich hat Iraqi Airways, die wichtigste irakische Fluggesellschaft, vor einigen Tagen erklärt, noch im August alle Flüge nach Belarus zu streichen.

Beobachter sehen die jungen Männer in diesem und weiteren litauischen Lagern als Spielball der Politik. Seitdem die Europäische Union Sanktionen gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko wegen dessen brutalen Vorgehens gegen Oppositionskräfte erließ, setzt dieser offenbar im Gegenzug Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU ein und instrumentalisiert diese entsprechend.

Tatsächlich hatten allein in den vergangenen Wochen hunderte Migranten illegal die Grenze aus Belarus überschritten. Insgesamt wurden in diesem Jahr bereits mehr als 3500 Menschen an der Grenze aufgegriffen. Litauen fürchtet, bis Ende des Jahres könnten mehr als 15.000 weitere Menschen aus Nahost und Afrika kommen. Inzwischen hat Belarus übrigens angekündigt, seinerseits die Grenze zu Litauen schließen zu wollen: Die Flüchtlinge sollen offenbar nicht zurückkehren.

Ohne Familie unterwegs: Im Flüchtlingslager Rudninkai leben überwiegend junge MännerBild: Hamzah alshwabkeh

Sehnsuchtsort Europa

Wie begehrt Europa unter irakischen Flüchtlingen ist, lehrt ein Blick auf eine inzwischen nicht mehr existierende Facebook-Gruppe, die sich der Einwanderung nach Europa via Belarus widmete. Innerhalb weniger Tage verzeichnete die Gruppe zehntausende Mitglieder. Inzwischen ist sie aus Facebook verschwunden. Doch bis kürzlich behandelte die Seite quasi alles, was für Migranten und Flüchtlinge bei einem solchen Vorhaben wichtig sein könnte: Flugpreise von Bagdad nach Minsk, unterschiedliche Routen vor Ort, die Frage, ob die Hilfe von Menschenschmugglern nötig sei - oder ob man sich auch alleine ganz gut durchschlagen könne.

Belarus unterstütze aus politischen Gründen ganz bewusst Iraker und andere Flüchtlinge, die ein neues Zuhause in der benachbarten EU finden wollten, sagt auch der ortsansässige Politologe Vytis Jurkonis: "Aber Litauen hat weder die Infrastruktur noch die nötige Erfahrung, um Asylanfragen in diesem Umfang zu bewältigen." Zudem träfen in Litauen auch weiterhin Flüchtlinge aus Belarus selbst ein, die ihre Heimat angesichts der harten Gangart von Machthaber Lukaschenko verlassen hätten, so der Leiter des Büros von "Freedom House" in Vilnius: "Den eigenen Bürgern untersagt die weißrussische Regierung den Grenzübertritt nach Litauen. Aber den Menschen aus dem Nahen Osten gestattet sie ihn."

Inzwischen hat Bagdad einige der gestrandeten Iraker zurück in die Heimat geholt. Die meisten kehren mittellos oder gar verschuldet zurück: Ihre Ersparnisse haben sie für die Reise nach Belarus aufgebracht. Das Ticket für den Rückflug müssen sie trotzdem aus eigener Tasche zahlen.

Gestrandet im Grenzgebiet: Die meisten Flüchtlinge stammen aus NahostBild: Mindaugas Kulbis/AP/dpa/picture alliance

Maskierte Schläger

Ein Iraker, der sich noch in Minsk aufhält, erzählt uns derweil am Telefon, er habe bereits viermal vergeblich versucht, über Polen in die Europäische Union zu reisen. Deshalb habe er sich nun entschieden, über Minsk einzureisen. Doch auch dieser Versuch sei gescheitert. Denn beim Grenzübertritt - so berichtet er - sei er von teils maskierten Männern misshandelt worden: "Sie schlugen uns mit elektrischen Schlagstöcken. Sie schleppten uns in ihre Fahrzeuge und prügelten dort minutenlang auf uns ein." Er glaubt, dass die Männer, die ihn attackierten, zum litauischen Grenzschutz gehörten. 

Dieser allerdings weist den Vorwurf zurück: "Litauische Grenzschützer haben noch nie irgendeine Form von tödlichen Waffen oder speziellem Equipment gegen irreguläre Migranten eingesetzt", heißt es in einer Stellungnahme von Rokas Pukinskas, dem Sprecher der Grenztruppen. "Wir haben auch keinerlei elektrische Schlagstöcke in unserem Equipment."

Ein weiterer Iraker im Lager Rudninkai erklärt, ihm sei nun klar, dass er und die anderen Geflüchteten mit ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben in Europa zu einem politischen Spielball zwischen europäischen Ländern geworden seien. Nach Europa wolle er aber weiterhin - allerdings nur noch auf legalem Wege, beteuert er.

Litauen meldet Flüchtlingsnotstand

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Aus dem Arabischen adaptiert von Kersten Knipp. Die Reportage entstand in Zusammenarbeit mit dem Projekt "Infomigrants", an dem die DW beteiligt ist.

Der Artikel wurde am 20. August 2021 um eine Stellungnahme der litauischen Grenzschutzbehörden ergänzt. Darin werden die von einem interviewten Migranten erhobenen Vorwürfe gegen Litauens Grenzschützer zurückgewiesen.

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