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Politisches Erdbeben nach dem Brexit

Barbara Wesel, London26. Juni 2016

Neuwahlen vielleicht vor Ende des Jahres, Machtkämpfe bei Konservativen und Labour, Unabhängigkeitsrufe in Schottland und Nordirland: Am Wochenende hat bei vielen Briten die Panik eingesetzt. Barbara Wesel aus London.

Proteste gegen die Brexit-Entscheidung in London - Foto: Picture alliance/ZUMAPRESS.com
Junge Briten protestieren gegen die Brexit-Entscheidung - sie haben mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmtBild: icture alliance/ZUMAPRESS.com

Mit der Meldung, dass US-Außenminister John Kerry am Montag nach London und Brüssel fliegen wird, ist die Post-Brexit-Situation offiziell zur globalen Krise geworden. Offensichtlich macht sich Washington jetzt Sorgen um den Zusammenhalt der westlichen Welt und die Stabilität in Großbritannien sowie der Europäischen Union.

Im - noch - Vereinigten Königeich wiederum ist am Wochenende eine Art nationaler Panik ausgebrochen: Das Land erleidet einen kollektiven Nervenzusammenbruch. Und die Jugend wendet sich wütend gegen die ältere Generation: Warum habt ihr uns das angetan?

"Regrexit" oder "Bregret"?

In den Jubel mischt sich Katerstimmung: "Wir sind draußen"Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Gleich zwei Begriffe sind seit Freitag für die Stimmung in Großbritannien erfunden worden: "Regrexit" und "Bregret". Beide bezeichnen das Reuegefühl nach dem Brexit-Votum, dessen Folgen die meisten Wähler offenbar nicht überschaut haben. "Es ist wie die Reue nach einer durchzechten Nacht. Am Morgen danach denkt man: Was um Gottes Willen habe ich getan?" So beschreiben viele Briten inzwischen ihre Gefühle, wenn sie das politische Chaos betrachten, das sich im Land ausbreitet.

Schockiert sind viele auch, weil sie erst jetzt verstehen, dass die Brexit-Befürworter ihre Wahlversprechen nicht einhalten können: Es wird keine hunderte Millionen Investitionen für das Gesundheitssystem geben, die Immigration wird nicht nennenswert sinken, es wird nicht mehr Fisch für britische Fischer und kein Geld mehr aus Brüssel mehr für britische Bauern geben. Die Wähler hatten der Brexit-Kampagne geglaubt, als sie ihnen ein besseres Leben nach der EU vorgaukelte. Der Kater danach und die Rückkehr in die Realität treffen sie hart.

Konservative abgetaucht

Zeit zu gehen: David Cameron nach seiner RücktrittserklärungBild: Reuters/P. Noble

Bei den Konservativen ist von den Führungsfiguren am Wochenende nichts zu hören. Das Land ist mit seiner Unruhe allein. Noch-Premier David Cameron hat sich schweigend in die Downing Street zurückgezogen. Boris Johnson, Galionsfigur des Brexit und potenzieller Amtsnachfolger, ist abgetaucht. Die sonntäglichen Politik-Talkshows, in denen er wochenlang Dauergast war, müssen mit Figuren aus der zweiten Reihe auskommen. Und die halten sich an die inzwischen bekannten Floskeln aus der Zeit der Kampagne, können oder wollen die brennendste Frage nicht beantworten: Wie soll es weitergehen? Außenminister Philip Hammond meldet sich kurz zu Wort und nennt es eine Katastrophe, sollte Großbritannien den Zugang zum Binnenmarkt verlieren. Das trägt nicht zur Beruhigung der Nerven bei.

Hinter den Kulissen ist der Machtkampf bei den Tories voll im Gang: David Cameron will Innenministerin Teresa May als Gegenkandidatin für seine Nachfolge benennen. Wenn er schon als der Premier in die Geschichte eingehen sollte, der das Land aus der EU geführt hat, will er es zumindest vor Boris Johnson bewahren. Er traut seinem früheren Weggefährten längst nicht mehr, und schon gar nicht mit dem höchsten Amt. Cameron versucht jetzt die politische Macht noch in sichere Hände zu übergeben. Ob das klappt ist allerdings offen: Teresa May hat bisher wenig Unterstützung in der Partei.

Chaos auch in der Labour Party

Riss durch Labour: Jeremy Corbyn (r.) trennt sich von Hilary Benn (l.)Bild: picture alliance/empics/PA Wire

Bei der Opposition ist die Lage wenig besser: Mitten in der Nacht hat Labour-Chef Jeremy Corbyn seinen Schattenaußenminister Hillary Benn gefeuert. Er hatte einen Misstrauensantrag gegen den Parteichef unterstützt. Bis zum Nachmittag waren ihm vier weitere Abgeordnete aus der ersten Reihe der Partei gefolgt. Nach Angaben der BBC sei das halbe Schattenkabinett bereit, sich anzuschließen. Corbyn habe die "Remain"-Kampagne für die EU-Mitgliedschaft nur halbherzig unterstützt, und damit entscheidend für die Niederlage im Referendum beigetragen, so der Vorwurf seiner Gegner.

Tatsächlich haben die Wähler vor allem in den alten Labour-Hochburgen im Norden die Parteilinie in Scharen verlassen und für den Ausstieg aus der EU gestimmt. Wie der Machtkampf ausgeht, ist noch offen. Er könnte die Partei zerreißen, zumindest aber schwächt er sie in kritischer Zeit.

Schottland droht mit Veto

Will Schottland in der EU halten: Nicola SturgeonBild: Reuters/UK Parliament

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hat inzwischen angekündigt mit allen Mitteln zu verhindern, dass Schottland die EU verlassen muss. Verfassungsjuristen streiten, ob vielleicht das schottische Parlament sogar die Macht hat, eine Abstimmung in Westminster darüber zu blockieren. Das gleiche könnte für das nordirische Regionalparlament gelten. In beiden Regionen hat die Bevölkerung mit großer Mehrheit für "Remain" gestimmt.

Sturgeon will darüber hinaus nichts unversucht lassen, notfalls durch ein zweites Unabhängigkeitsreferendum oder mit anderen Mitteln eine EU-Mitgliedschaft für Schottland zu retten: Sie hat bereits direkten Kontakt mit Brüssel aufgenommen.

Bald Neuwahlen?

Inzwischen wird vermutet, dass die politische Situation so explosiv ist, dass es noch vor Ende des Jahres Neuwahlen geben. Beide großen Parteien sind darauf kaum vorbereitet, und keiner der Parteiführer oder potentiellen Kandidaten für das Premierministeramt wären imstande, das tief gespaltene Land zusammen zuführen.

Unterdessen häufen sich überall Berichte von fremdenfeindlichen Ausfällen. Polnischen Immigranten zum Beispiel wurden Hassparolen an die Türen geklebt. Viele Briten sind schockiert von dem Gesicht, das ihr Land jetzt zeigt. Und sie verstehen nur langsam, welches Erdbeben ihre scheinbar stabile Insel erschüttert.

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