"Trudeau hat Vertrauen verloren"
21. Oktober 2019Deutsche Welle: Herr Thunert, Kanada wählt ein neues Parlament. Warum sollte das jemanden im Rest der Welt interessieren?
Martin Thunert: Spätestens seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und seiner Kritik an der regelbasierten internationalen Ordnung ist es für Europa wichtig, in Nordamerika weiter einen engen Alliierten zu haben. Und obwohl Kanada für viele auf der Welt ein weißer Fleck auf der politischen Landkarte ist, spielt es eine wichtige Rolle. Kanada ist Mitglied der G7, Mitglied der NATO, Mitglied der G20 und vieler anderer großer internationaler Organisationen und Klubs. Da hat man automatisch Gewicht in der Welt.
Am Tisch der G7, G20 und der NATO sitzt im Moment noch Kanadas liberaler Regierungschef Justin Trudeau. Das könnte sich aber bald ändern. Die konservative Partei von Herausforderer Andrew Scheer liegt mit den Liberalen gleichauf. Wie wahrscheinlich ist ein Machtwechsel in Kanada?
Wenn die Umfragen nicht komplett falsch liegen, dann wird keine der beiden großen Parteien - weder die Liberalen noch die Konservativen - die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erzielen. Kanada ist es gewohnt, in so einem Fall Minderheitsregierungen statt Koalitionen zu haben. Kanada hatte das über längere Zeit im vergangenen Jahrzehnt und auch bis zu Beginn dieses Jahrzehnts - und das klappt in der Regel auch ganz gut.
Sollte Andrew Scheer knapp vorne liegen, sehe ich allerdings noch nicht, wie er dann eine stabile Unterstützung im Parlament zusammenbekommen will. Er könnte natürlich ohne Mehrheit anfangen und sich dann bei jedem Gesetz neue Verbündete suchen. Ich weiß aber nicht, wie er das inhaltlich machen will. Für viele seiner Vorhaben wird er kaum die Unterstützung der Grünen oder der Sozialdemokraten bekommen.
Denn die Umfragen zeigen, dass die linken Kräfte - Sozialdemokraten und Grüne - bei dieser Wahl stark sein werden. Daher könnte ich mir gut vorstellen, dass Trudeau ohne eigene Mehrheit an der Macht bleiben könnte und dann auf die Unterstützung der linken Parteien angewiesen sein wird.
Premierminister Trudeau hat im Land an Beliebtheit eingebüßt. Woran liegt das?
Die ersten zwei Jahre seiner Amtszeit liefen gut. Danach hat er in einer Reihe von Fällen schlechtes Urteilsvermögen bewiesen. Er ist zum Beispiel einem Unternehmen aus seiner Heimatprovinz Quebec beigesprungen, das in einen Korruptionsskandal verwickelt war. In diesem Zusammenhang hat Trudeau auf seine, gegen das Unternehmen ermittelnde Justizministerin Jody Wilson-Raybould starken Druck ausgeübt, die Ermittlungen fallen zu lassen. Er hat Wilson-Raybould schließlich aus dem Amt gedrängt, die erste Justizministerin mit einer Ureinwohner-Herkunft. Das kam nicht gut an. Außerdem hat er entschieden, eine private Ölpipeline zu verstaatlichen und aufzubauen. Dabei hat er sich auch mit Umweltschützern angelegt und deren Vertrauen weitgehend verloren.
Auch der Umgang mit Trump ist ihm seit dem G7-Gipfel in Kanada 2018 nicht mehr so gelungen, wie am Anfang gehofft. Davor galt er neben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als derjenige, der am besten mit Trump umgehen kann. All das und mehr hat zu Verkettungen geführt, die sein Image beschädigt haben.
Andrew Scheer ist noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Hätte er einen stärkeren Herausforderer bei den Konservativen, dann müsste Trudeau jetzt darum bangen, die Macht gänzlich zu verlieren.
Ein Blick auf den Herausforderer: Als Donald Trump ein Einreiseverbot gegen Menschen aus muslimischen Ländern verhängte, lud Trudeau die Menschen nach Kanada ein. Wäre das unter Andrew Scheer auch passiert?
Nein, vermutlich nicht in dieser Form. In Kanada geht es nicht so sehr darum, ob Menschen einwandern sollten, sondern wer wie einwandert. Trudeau hat mit einem missverständlichen Tweet die Menschen dazu eingeladen, über die grüne Grenze von den USA rüber nach Kanada zu laufen. Und das kam auch beim Großteil der Bevölkerung, der Einwanderung im Grundsatz befürwortet, nicht gut an.
Ich denke, dass Scheer daher eine eher restriktivere Linie fahren würde. Das schließt aber nicht aus, dass man aus Krisengebieten bestimmte Kontingente an Flüchtlingen aufnehmen würde. Aber illegalen Grenzübertritt, das mögen die Kanadier nicht. Das sind sie durch ihre geografische Lage, mit den USA als einzigen Nachbarn, auch nicht gewohnt.
Scheer hat angekündigt, Trudeaus CO2-Steuer wieder abzuschaffen und die Entwicklungshilfe zu kürzen. Würde ein Premierminister Scheer näher an Donald Trump rücken?
Offiziell sicherlich nicht. Dennoch würde die kanadische Regierung dann sicher weltanschaulich näher an Trump und der konservativen Regierung in Großbritannien liegen als Trudeau. Aber bisher kennt man Scheer international überhaupt nicht. Lediglich in den Kreisen der Konservativen Partei in Großbritannien konnte man mit seinem Namen etwas anfangen, hat eine Umfrage gezeigt. Selbst in den USA und in Teilen Kanadas weiß man nicht viel über ihn.
Würde Scheer Kanada weiter von Europa entfernen?
Sollte Scheer an die Macht kommen, dann hauptsächlich wegen der Wähler im Westen Kanadas. Diese Regionen sind, wie ganz Kanada, noch stark von fossilen Energieträgern abhängig. Darum könnte ich mir vorstellen, dass es gerade bei Energie, Umwelt und klimapolitischen Fragen mehr Uneinigkeit mit Frankreich, Deutschland und der EU geben könnte, als das mit Trudeau der Fall ist.
Beim Handel wird das, glaube ich, nicht so sein. Da könnte ich mir sogar vorstellen, dass die Regierung handelsfreundlicher sein wird als unter Trudeau. Scheer dürfte auch NATO-freundlicher eingestellt sein und damit an Trudeaus konservativen Vorgänger Stephen Harper anknüpfen.
Für Scheer selbst ist dieser Harper-Vergleich aber ein zweischneidiges Schwert. Harper hat zwar mehrere Wahlen gewonnen, war am Ende aber relativ unpopulär, weil er sehr autoritär mit seiner Mehrheitsregierung umging. Deswegen konnte Trudeau vor vier Jahren auch einen so großen Überraschungssieg einfahren.
Diesmal sind die Umfragen vermutlich akkurater und sehen dieses Kopf-an-Kopf-Rennen - vielleicht mit einem leichten Vorteil für die Konservativen. Ich würde mich aus dem Fenster lehnen und sagen, dass wir eine Art Minderheitsregierung sehen werden. Ob die dann vier Jahre durchhält, ist eine andere Frage.
Der Politikwissenschaftler Martin Thunert ist seit 2007 am Center for American Studies (HCA) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg tätig.
Das Interview führte Patrick Große.