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PolitikEuropa

Polizeigewalt gegen Roma: Erschossen wegen 20 Euro

Florian Schmitz Thessaloniki
22. Dezember 2022

Anfang Dezember 2022 wurde ein 16-jähriger Angehöriger der griechischen Roma-Minderheit von Polizisten erschossen. Der Junge hatte getankt, ohne zu zahlen. Roma-Vertreter werfen Griechenlands Polizei Rassismus vor.

Griechenland, Thesssaloniki | Proteste gegen Polizeigewalt
Protest gegen Polizeigewalt vor einem Gerichtsgebäude in Thessaloniki am 9.12.2022 - zu diesem Zeitpunkt war der 16-jährige Kostas Fragoulis noch nicht totBild: Giannis Papanikos/AP/dpa/picture alliance

Brennende 20-Euro-Scheine, das Foto eines jungen Mannes und verzweifelte Gesichter: Dutzende Roma demonstrieren vor einem Gerichtsgebäude in der nordgriechischen Metropole Thessaloniki. Es ist kurz vor Weihnachten. Doch zum Feiern ist hier niemandem zumute. Denn schon wieder ist ein Rom bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen. Und schon wieder scheint das kaum politische Konsequenzen zu haben.

Erst 16 Jahre war Kostas Fragoulis alt, als er Anfang Dezember 2022 durch die Schusswaffe eines Polizisten zunächst schwer verletzt wurde und wenige Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Kostas hatte an einer Tankstelle im Westen Thessalonikis für 20 Euro Benzin getankt und war ohne zu bezahlen weggefahren. Die Polizisten waren zufällig vor Ort und hatten mit dem Motorrad die Verfolgung aufgenommen. Einer der Beamten schoss ihm dabei in den Kopf.

Nach dem Tod von Kostas Fragoulis kam es in mehreren Städten Griechenlands zu gewalttätigen Protesten wie hier in Thessaloniki am 5.12.2022Bild: DimitrisTosidis/AP Photo/picture alliance

Seit dem Tod von Kostas demonstrieren Roma in vielen griechischen Städten gegen Polizeigewalt. Einige linke Gruppierungen unterstützen die Angehörigen der Minderheit dabei. Doch erst wenige Woche zuvor, am 6. Dezember 2022, waren in Griechenland weit mehr Menschen auf die Straße gegangen. Sie erinnerten an den 15-jährigen Alexandros Grigopoulos, der 2008 bei einer Demonstration in Athen durch eine Polizeikugel starb. Sein Tod ist im Land zu einem inoffiziellen Gedenktag gegen Polizeigewalt geworden. Die gesellschaftliche Empörung über den Tod eines Griechen, der nicht Teil der Roma-Gemeinschaft ist, scheint weitaus mehr verbreitet.

"Konnten sie nicht auf die Reifen schießen?"

"Mussten sie Kostas wirklich für läppische 20 Euro töten?" fragt Angeliki kopfschüttelnd. "Andere Menschen, die keine Roma sind, klauen auch und werden nicht direkt umgebracht." Die Mittfünfzigerin sitzt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn vor ihrem kleinen Ofen in einer aus Holz und Plastikfolien zusammengeschusterten Behausung in der Nähe von Athen. Hier, eine Autostunde westlich der griechischen Hauptstadt, wohnen seit Jahren Hunderte Roma in einem improvisierten Camp. Die Menschen leben vom Schrott- und Müllsammeln oder verdingen sich als Tagelöhner. Strom und fließendes Wasser gibt es nicht.

Angeliki in ihrer Behausung in einem improvisierten Camp westlich von AthenBild: Florian Schmitz/DW

Der kalte Meereswind schlägt hart gegen die dünnen Wände von Angelikis Behausung. Dennoch ist es einigermaßen warm drinnen. "Vor einem Jahr erst haben sie Nikos erschossen. Mussten sie wirklich die Waffe auf ihn richten? Konnten sie ihm nicht einfach die Reifen zerschießen?", fragt Angeliki.

Mehr als 30 Schüsse bei Verfolgungsjagd

Nikos Sabani wohnte bis Oktober 2021 nur wenige Hütten von hier entfernt. Inzwischen wäre er 19 Jahre alt. Doch er kam bei einer wilden Verfolgungsjagd mit der Polizei ums Leben. Über 30 Schüsse feuerten die sieben Beamten ab, die ihn jagten. Ihre Vermutung: Nikos und der minderjährige Fahrer hätten das Auto, in dem sie saßen, gestohlen.

Jannis Sabani, der Vater des im Oktober 2021 erschossenen Jugendlichen Nikos SabaniBild: Florian Schmitz/DW

Nikos' Vater Jannis kümmert sich nun um die Frau und die Kinder seines Sohnes. "Neulich hat mich und meine Frau ein Polizist angehalten, als wir Schrott am Straßenrand gesucht hatten. Er hat mich gefragt, wie ich heiße und dann hat er am Namen verstanden, wer mein Sohn war. Er hat zu mir gesagt, dass Nikos nicht nur 38, sondern 108 Schüsse verdient hätte", sagt er wütend.

"Wir wollen Gerechtigkeit"

Jannis Mantzas sitzt in einem Café in Evosmos, einem Stadtteil von Thessaloniki. Der 45-jährige wirkt müde. Seit den Schüssen auf Kostas ist Mantzas, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Panhellenischen Konföderation Griechischer Roma tätig ist, unentwegt im Einsatz: Demonstrationen, Gespräche, Interviews, die Beerdigung, die erste Anhörung vor Gericht. "Der Polizist, der auf Kostas geschossen hat, ist auf freiem Fuß", sagt Mantzas ungläubig. Bis zum Hauptverfahren dürfe er sich beschränkt bewegen: "Er darf das Land nicht verlassen. Das ist alles!" Die Empörung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Jannis Mantzas, Mitarbeiter der Panhellenischen Konföderation Griechischer RomaBild: Florian Schmitz/DW

Die Entscheidung des Gerichts, den Polizeibeamten nicht weiter in Gewahrsam zu halten, hat die Empörung der Roma weiter verstärkt. Doch vor allem stünde man in solchen Momenten zusammen, erklärt Mantzas. Überall in Griechenland unterstütze man die Familie des Opfers und sammle Geld, um die Anwaltskosten zu decken. Es gehe den Menschen nicht um Rache oder Gewalt: "Wir wollen Gerechtigkeit", sagt Mantzas. Vor allem hoffe man, dass es nicht zu weiteren Opfern unverhältnismäßiger Polizeigewalt komme.

Struktureller Rassismus in Griechenlands Polizei

Mantzas beklagt, dass der Einsatz, bei dem Kostas tödlich verletzt wurde, nicht nur unverhältnismäßig, sondern gänzlich unnötig war: "Der Tankwart kannte Kostas, seinen Vater und den Wagen. Er hätte sein Geld also bekommen." Der Junge sei auch nicht getürmt, weil er die Zeche prellen wollte, sondern weil er keinen Führerschein hatte." Eine Kurzschlussreaktion eines 16-Jährigen aus sozial schwierigen Verhältnissen. Mantzas ist sich sicher: Die Polizei hätte anders reagiert, wenn Kostas ein "weißer Grieche" gewesen wäre. "Das war ein rassistisches Verbrechen", sagt er und fügt hinzu: "Die Polizei muss endlich besser ausgebildet werden."

Roma-Camp in der Nähe von Athen: Über 10.000 Roma in Griechenland leben in solchen VerhältnissenBild: Florian Schmitz/DW

Bereits nach dem Mord an Nikos Sabani hatte die Konföderation der Roma ein Schreiben an die Regierung geschickt, in dem sie Vorschläge unterbreitete, wie sich das gespannte Verhältnis zwischen der Minderheit und der Polizei verbessern könnte: "Man hat uns gesagt, dass man die Vorschläge prüfen und dann eine Entscheidung treffen würde. Nun ist ein Jahr vorbei, es ist nichts passiert. Jetzt beklagen wir noch einen Toten."

Antiziganismus in der Gesellschaft

Die 53-jährige Giorgia Fassou aus dem südgriechischen Kalamata sieht in all dem vor allem ein gesellschaftliches Problem. Die pensionierte Journalistin setzt sich seit Jahren für die Rechte der Roma in Griechenland und ein Ende ihrer Stigmatisierung ein. Sie weist darauf hin, dass mehr als 10.000 Roma im Land in Lagern ohne fließendes Wasser oder Strom leben - dabei seien auch sie griechische Staatsbürger. "Eine Mehrzahl der Griechen weiß darüber nicht Bescheid. Für sie sind die Roma Bürger zweiter Klasse", so Fassou.

Die Politik befördert diese Einstellung eher, als etwas dagegen zu unternehmen. Nach den tödlichen Schüssen auf Nikos Sabani gratulierte der Entwicklungsminister Adonis Georgiadis den Polizeibeamten per Twitter. "Es ist offensichtlich, dass die Polizisten ihre Arbeit gut verrichtet haben. Sie haben ihr eigenes Leben und die Gemeinschaft beschützt. Bravo", schrieb der Minister.

Τakis Theodorikakos, Minister für Bürgerschutz und damit zuständig für das Polizeiwesen, drückte nach Kostas Fragoulis Tod den Angehörigen sein Beileid aus - und erklärte dann: "Die Polizei hat eine Reihe von Operationen durchgeführt, die sich nicht gegen die Roma, sondern gegen Kriminelle richten." Im Anschluss kam es zu Dutzenden Verhaftungen aufgrund von Drogen- und Waffenbesitzes - allesamt in Nachbarschaften, wo vor allem Roma leben.