Die Zeremonie findet in Stockholm statt, die Medaille hat Abdulrazak Gurnah bereits in London erhalten. Der auf Sansibar geborene tansanisch-britische Schriftsteller im Porträt.
Anzeige
Abdulrazak Gurnah zuzuhören, heißt, Geschichten von Migration zu lauschen, in denen der ewige Wechsel und beständige Umbruch gewiss sind. Es ist nicht die eurozentristische Mär der nationalen Unversehrtheit und Kontinuität, von der man liest. Es sind Geschichten des sich neu Erfindens, Transformierens und Weitermachens - zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten.
Weil die Realität manchmal eben auch deckungsgleich mit den Geschichten eines Romans ist, hat der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger die Aufmerksamkeit genutzt, um die britische Flüchtlingspolitik zu kritisieren. "Das hat etwas ziemlich Unmenschliches", sagte Gurnah am Dienstag (7. Dezember), einen Tag nach seiner Ehrung auf einer Online-Pressekonferenz.
Gurnah bezog sich auf den Streit zwischen England und Frankreich über den Umgang mit Migrantinnen und Migranten, die über den Ärmelkanal flüchteten. "Dabei werden diese Menschen mehr oder weniger zu dieser gefährlichen Art der Überquerung gedrängt", sagte er. England weigere sich, sichere Fluchtwege zu schaffen.
Sansibar: bewegende Insel-Geschichte
Das Wandern zwischen den Welten ist dem 1948 in Sansibar geborenen Abdulrazak Gurnah in die Wiege gelegt. Die Insel, auf der er aufwuchs ist ein Melting Pot, der seinen Namen verdient: Der Handel auf dem Indischen Ozean - mit Sklaven, Nelken und Kokosnüssen - prägte seit dem 10. Jahrhundert die Geschicke der Insel, erst durch persische, später durch arabische Händler. 1861 wurde Sansibar zum unabhängigen Sultanat, was es bis zur Kontrollübernahme der Briten 1890 blieb.
Auf dieses Sansibar bezieht sich Gurnah in seinem zweiten Roman "Paradise", der 1994 ins Deutsche übersetzt wurde. Er spielt an der ostafrikanischen Küste in der Zeit unmittelbar vor dem Zugriff der Kolonialmächte. In Gurnahs Erzählungen stehen aber nicht unbedingt die Kolonisatoren im Mittelpunkt, sondern die Beziehungen zur arabischen und indischen Welt überwiegen. So rücken sie auch einen Blick zurecht, der die afrikanische Geschichte stets nur im Kontext kolonialer Machtausübung und somit bezogen auf Europa erzählt.
Zivilisation ohne Europäer
Mit "Paradise" stand Gurnah 1994 auf der Shortlist für den Booker Prize, es war sein größter Erfolg bis zur Nobelpreisverleihung. Der Roman wurde von der Literaturwissenschaft als Spiegelgeschichte zu Joseph Conrads "Heart of Darkness" gelesen, die den Blick auf die Kolonisierten in Afrika umlenkt auf die Kolonisatoren.
"Ich will der Vorstellung widersprechen, dass der europäische Kolonialismus Ostafrika von der Trägheit zur Zivilisation führte. Die Realität ist komplexer, denn während vielen Jahrhunderten fanden viele andere Interaktionen statt, die bis heute andauern", so Gurnah in einem Interview zur Buchveröffentlichung von "By the Sea" ("Ferne Gestade") im Jahr 2001.
"Ich stelle den Kolonialismus als eine Zerstörung dar - nicht von etwas Harmonischerem oder Besserem, doch von einer Wirklichkeit, die das Resultat von Verhandlungen zwischen verschiedenen Kulturen war." Dieser Aspekt werde von der Geschichtsschreibung üblicherweise übergangen, so Gurnah 2001 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung.
Migration ins nass-kalte England
Mit "By the Sea" und seinem Vorgänger "Admiring Silence" ("Donnernde Stille"), in dem ein namenloser Ich-Erzähler nach 20 Jahren in England wieder nach Sansibar zurückkehrt, wendet sich Gurnah der Migration zu, die auch zu seiner Lebensrealität gehört. 1964 wurde die arabische Elite, die 200 Jahre lang über die afrikanische Mehrheit auf Sansibar herrschte, gestürzt. Es folgten Massaker, Gurnah verließ Sansibar Richtung England.
Mit 20 Jahren begann er zu schreiben, auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache Suaheli. Gurnah studierte in England und war viele Jahre lang und noch bis vor kurzem Professor für postkoloniale Literatur an der Universität Kent. Er befasste sich mit Schriftstellern wie dem nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka und dem Kenianer Ngugi wa Thiong'o, der in diesem Jahr ebenfalls unter den Favoriten für den Literaturnobelpreis war.
Anzeige
Überraschungswahl des Nobelpreis-Komitees
Gurnah ist der erste tansanische Autor, der den Nobelpreis erhält und der erste schwarze afrikanische Schriftsteller seit Wole Soyinka 1986. Obwohl weitestgehend unbekannt, war die Auszeichnung längst überfällig, sagt Alexandra Pringle, seine langjährige Verlegerin bei Bloomsbury dem britischen Guardian. "Er ist einer der bedeutendsten lebenden afrikanischen Schriftsteller, und nie hat jemand Notiz von ihm genommen. Das hat mich fast umgebracht."
Gurnah selbst wurde von dem Anruf aus Stockholm in der Küche überrascht. "Ich dachte, das wäre ein Witz", sagte der Autor laut der Nobelpreis-Website. "Solche Dinge sind normalerweise Wochen im Voraus im Umlauf."
Deutschland hat Nachholbedarf
Von den zehn Romanen und mehreren Kurzgeschichten, die Gurnah schrieb, sind bislang nur fünf ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt der Roman "Die Abtrünnigen" 2006. Das stößt auch bei seinem deutschen Übersetzer Thomas Brückner auf Unverständnis, der seine Romane für ihren hintersinnigem Humor lobt. "Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtung seiner Figuren, ihres Innenlebens und auch dessen, was um diese Figuren und damit um den Autor herum vor sich geht", sagte er gegenüber der Presseagentur DPA.
Die Übersetzungen waren noch dazu in Deutschland vergriffen. Das ändert sich nun nach der Verleihung des Nobelpreises: Der Penguin-Verlag wird Neuübersetzungen von Gurnahs bereits in Deutschland erschienenen Büchern herausbringen und auch sein neuestes Werk zum ersten Mal ins Deutsche übersetzen: Der Roman "Afterlives" (2020) handelt von dem jungen Ilyas, der seinen Eltern von deutschen Truppen geraubt wurde und Jahre später in sein Heimatdorf zurückkehrt, um gegen sein eigenes Volk zu kämpfen.
Die Literaturnobelpreisträger seit 2000
Die Preisträger seit der Jahrtausendwende könnten unterschiedlicher kaum sein. Darunter sind eine sarkastische Österreicherin, ein umstrittener chinesischer Autor und ein Norweger, der königlich residiert.
Bild: Alexander Mahmoud/DN/TT/IMAGO
2024: Han Kang
Zum ersten Mal geht der Literaturnobelpreis nach Südkorea. Die mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin Han Kang hat aussichtsreiche Kandidaten wie die Chinesin Can Xue, die Kanadierin Anne Carson, den indisch-britische Autoren Salman Rushdie oder den Japaner Haruki Murakami hinter sich gelassen.
Bild: Yonhap/picture alliance
2023: Jon Fosse
Ihn hatte 2023 wohl keiner so richtig auf dem Schirm, obwohl er eigentlich zum Favoritenkreis zählte: Jon Fosse. Der Norweger ist der renommierteste Autor seines Landes und hat auch international eine treue Leserschaft. Der 64-Jährige bewohnt in Oslo eine Künstlerresidenz im Schloss des Königs. Fosses umfangreiches, melancholisch geprägtes Werk wurde schon mehrfach ausgezeichnet.
Bild: Jessica Gow/picture alliance
2022: Annie Ernaux
Der Nobelpreis für Literatur 2022 ging an die Französin Annie Ernaux. Die 82-jährige Autorin stammt aus der Normandie und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Leben hat sie in ihren Büchern immer wieder autobiografisch verarbeitet. Sie galt schon seit Jahren als Favoritin für den Nobelpreis.
Bild: Ger Harley/EdinburghElitemedia/picture alliance
2021: Abdulrazak Gurnah
Der Überraschungsgewinner 2021 ist der 1948 geborene tansanische Autor Abdulrazak Gurnah. Er wuchs auf Sansibar auf und kam als Flüchtling Ende der 1960er-Jahre nach Großbritannien, wo er seither lebt. Obwohl Swahili seine Muttersprache ist, schreibt Gurnah seine Bücher auf Englisch. Sein vierter Roman "Das verlorene Paradies" (1994) brachte ihm den internationalen Durchbruch.
Bild: Frank Augstein/AP Photo/picture alliance
2020: Louise Glück
Die mit dem Literaturnobelpreis gekrönte US-amerikanische Dichterin und Essayistin hatte in ihrer Heimat bereits viele Auszeichnungen erhalten, darunter den Pulitzer-Preis, den National Book Award sowie die National Humanities Medal, die ihr 2016 von Barack Obama überreicht wurde. Zu ihren bekanntesten Werken zählen "The Triumph of Achilles" (1985) und "Wilde Iris" (1992).
Bild: Daniel Ebersole/Nobel Prize Outreach/Handout/REUTERS
2019: Peter Handke
Der Österreicher wurde mit experimentellen Theaterstücken wie seiner "Publikumsbeschimpfung" von 1966 bekannt. Außerdem schrieb er gemeinsam mit Wim Wenders Drehbücher, darunter "Der Himmel über Berlin". Die Auszeichnung Handkes war wegen seiner Haltung zu den Jugoslawien-Kriegen umstritten. Zudem hatte er 2015 die Abschaffung des Literaturnobelpreises gefordert und ihn als "Zirkus" bezeichnet.
Bild: Franz Neumayr/picturedesk.com/picture alliance
2018: Olga Tokarczuk
Die polnische Schriftstellerin erhielt den Nobelpreis 2018 eigentlich erst 2019 - da die Verleihung nach allerlei Skandalen in der den Preis vergebenden Schwedischen Akademie um ein Jahr verschoben wurde. Die zweifache Gewinnerin des Nike-Preises, dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, wurde 2010 schon für ihren Roman "Flights" ("Unrast") mit dem Man Booker International Prize geehrt.
Bild: Krzysztof Kaniewski/Eastnews/IMAGO
2017: Kazuo Ishiguro
Der in Japan geborene britische Romancier, Drehbuchautor und Verfasser von Kurzgeschichten wurde 2017 ausgezeichnet. Kazuo Ishiguros bekanntester Roman "Was vom Tage übrig blieb" ("The Remains of the Day") aus dem Jahr 1989 wurde mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt. Ishiguros Werke beschäftigen sich mit Erinnerung, Zeit und Selbsttäuschung.
Bild: Ben Stansall/AFP/Getty Images
2016: Bob Dylan
Der US-amerikanische Singer-Songwriter erhält die Auszeichnung 2016 für seine "poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Gesangstradition" hieß es bei der Bekanntgabe des Preises. In den 1960er Jahren begann seine Karriere als Folksänger, im Zuge der Protestbewegungen avancierte er an der Seite von Joan Baez zur Ikone der Hippie- und Bürgerrechtsbewegung in den USA.
Bild: picture-alliance/dpa/D. Castello
2015: Swetlana Alexijewitsch
Mit der weißrussischen Autorin würdigte das Nobelkomitee eine neue Form von Autorenschaft: In ihren Reportagen und Essays entwickelte Swetlana Alexijewitsch ihren ganz eigenen literarischen Stil. Sie führte Interviews und verdichtete diese zu emotionalen Collagen des tagtäglichen Lebens. Niemand sonst hat den Zerfall der UdSSR so dokumentiert wie sie, als eine Chronistin menschlichen Leids.
Bild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance
2014: Patrick Modiano
Krieg, Liebe, Besatzung, Tod: Das sind die Themen, mit denen sich der französische Autor Patrick Modiano beschäftigt, um die Erinnerungen an seine unglückliche Kindheit im Paris der Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Für eben diese "ganz besondere Erinnerungskunst" zeichnete ihn die Jury aus. In Frankreich schon lange hochgeschätzt, zählte Modiano bis dahin international eher zu den großen Unbekannten.
Bild: PATRICK KOVARIK/AFP
2013: Alice Munro
2013 gewann die kanadische Schriftstellerin Alice Munro den Literaturnobelpreis. Für die Schwedische Akademie, die den Preis seit 1901 jährlich vergibt, ist sie die "Meisterin der zeitgenössischen Zeitgeschichte". Munros Vorgänger der jüngsten Vergangenheit sind Vertreter unterschiedlichster literarischer Traditionen und Genres.
Bild: CHAD HIPOLITO/empics/picture alliance
2012: Mo Yan
Das Nobelkomitee würdigte Guan Moye, besser bekannt unter seinem Pseudonym Mo Yan, als Autor, der "mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint". Die Entscheidung wurde von chinesischen Künstler-Kollegen wie Ai Weiwei kritisiert. Mo Yan sei dem kommunistischen Regime zu nah.
Ihre Entscheidung für Tomas Gösta Tranströmer begründete die Jury 2011 mit seinen "komprimierten, erhellenden Bildern, die neue Wege zum Wirklichen weisen." In den 1960er Jahren arbeitete der schwedische Dichter als Psychologe an einer Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Seine Gedichte wurden in über 60 Sprachen übersetzt.
Bild: Henrik Montgomery/epa/dpa/picture alliance
2010: Mario Vargas Llosa
Der peruanische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für "seine Kartografie von Machtstrukturen und seine energischen Bilder des individuellen Widerstands, der Rebellion und Niederlage." In Lateinamerika ist er vor allem für seinen 1990 im Fernsehen geäußerten Satz "Mexiko ist die perfekte Diktatur" und seine Faustattacke gegen den früheren Freund Gabriel García Márquez 1976 bekannt.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Riedl
2009: Herta Müller
Die deutsch-rumänische Schriftstellern zeichne "mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit", so die Begründung der Jury zur letzten deutschsprachigen Gewinnerin. In ihren Werken kritisiert sie das autoritäre Ceaușescu-Regime, das Rumänien bis 1989 regierte. Ihr Roman "Atemschaukel" (1990) wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt.
Bild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance
2008: J.M.G. Le Clézio
Le Clézio sei der "Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase" und der "Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation", begründete die Akademie damals die Auszeichnung. Jean-Marie Gustave Le Clézio ist der Sohn einer Französin und eines Mauritiers. Den Inselstaat im Indischen Ozean nennt er sein "kleines Vaterland".
Bild: DyD Fotografos/Geisler/picture alliance
2007: Doris Lessing
Zum Werk der britischen Autorin gehören unter anderem Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Die Akademie würdigte Lessing als "Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat." Sie engagierte sich gegen Atomkraft und war eine lautstarke Gegnerin des Apartheid-Regimes in Südafrika.
Bild: Leonardo Cendamo/Leemage/picture alliance
2006: Orhan Pamuk
Ferit Orhan Pamuk, "der auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden hat", war der erste türkische Literaturnobelpreisträger. Mit elf Millionen verkauften Büchern in mittlerweile 35 Sprachen ist er der meistgelesene türkische Schriftsteller weltweit. Eine literarische Hommage an seine Stadt, Istanbul.
Bild: Peter Steffen/dpa/picture alliance
2005: Harold Pinter
Der britische Dramatiker starb drei Jahre nach der Auszeichnung an Lungenkrebs. Harold Pinter habe in seinen Dramen "den Abgrund unter dem alltäglichen Geschwätz freilegt" und sei "in den geschlossenen Raum der Unterdrückung" eingebrochen, so die Begründung der Jury. In vielen seiner Stücke übernahm er selbst Rollen und führte Regie.
Bild: MAX NASH/AP/picture alliance
2004: Elfriede Jelinek
Die österreichische Schriftstellerin bekam den Nobelpreis für "den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen", der soziale Klischees enthülle. Ein zentrales Thema in Jelineks Werken ist die weibliche Sexualität. Ihr Roman "Die Klavierspielerin" (1983) ist die Vorlage für die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 2011 mit der Französin Isabelle Huppert in der Hauptrolle.
Bild: Niklaus Stauss/akg-images/picture alliance
2003: John M. Coetzee
John Maxwell Coetzee porträtiere "die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise", lobte die Jury den Autoren. Neben dem Literaturnobelpreis hat der Südafrikaner bereits zwei Mal den renommierten Man Booker Prize erhalten. Sein wohl bekanntester Roman "Schande" (1999) beschäftigt sich mit der Postapartheid-Ära in Südafrika.
Bild: HERBERT PFARRHOFER/APA/picture alliance
2002: Imre Kertész
Der jüdisch-ungarische Auschwitz-Überlebende erhielt den Preis für sein Werk, in dem er "die fragile Erfahrung des Individuums gegen die barbarische Willkürlichkeit der Geschichte stellt". Kertész beschrieb in seinen Romanen das Grauen der Konzentrationslager. An seinem "Roman eines Schicksalslosen", eine der eindrucksvollsten Erzählungen über den Holocaust, arbeitete er über 13 Jahre.
Naipaul bekam den Preis für seine Erzählkunst, "in der er eine besonders sensible Wahrnehmung mit unbestechlicher Genauigkeit vereint, um uns zu zwingen, die Gegenwart unterdrückter Historien" zu erkennen. Der indisch-britische Schriftsteller hat die Freiheit des Individuums in einer im Niedergang begriffenen Gesellschaft zu seinem Thema gemacht, in verschiedenen Gegenden und Kulturen der Welt.
Bild: picture-alliance/Maxppp Giagnori/Eidon
2000: Gao Xingjian
Der erste Literatur-Nobelpreisträger des neuen Jahrtausends war ein Chinese, der seit 1987 in Paris lebt, als Schriftsteller, Dramatiker und Maler. Ausgezeichnet wurde er für "ein Werk von universeller Gültigkeit", das von "bittere Einsichten und sprachlichen Reichtum" gekennzeichnet sei und das dem chinesischen Roman und Schauspiel neue Wege eröffnet habe.
Bild: Avenet Pascal/ABACA/picture alliance
25 Bilder1 | 25
Die Welt jenseits von Abschottung und Eurozentrismus
Abdulrazak Gurnah erhält den Preis "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten", begründet der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, die Wahl.
Gurnah selbst sagte der Nobel-Stiftung in einem Interview, viele afrikanische Flüchtlinge kämen "nicht mit leeren Händen" nach Europa. Unter den Neuankömmlingen seien viele "talentierte, tatkräftige Leute, die etwas zu geben haben".
Eine Wahl also die zeigt, dass die Zeit reif war, eine andere Perspektive ins Zentrum zu rücken. Von den 118 Literatur-Nobelpreisträgerinnen und -preisträgern, die seit 1901 ausgezeichnet wurden, stammten 95 aus Europa oder Nordamerika - also mehr als 80 Prozent. Gurnah ist erst der fünfte Afrikaner, der den Preis erhält.
Aufgrund der Pandemie wurde ihm der Preis schon am Montag, den 6. Dezember überreicht, und zwar in der schwedischen Botschaft in London. Auch die Preisträger der anderen Disziplinen erhielten ihre Medaillen nicht in Stockholm - die deutschen Preisträger Klaus Hasselmann (Physik) und Benjamin List (Chemie) nahmen sie zum Beispiel am Mittwoch in Berlin entgegen. Die Festveranstaltung findet am 10.12., dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, ab 16:15 Uhr in Stockholm statt. Dort werden die Preise offiziell verliehen. In Stockholm lebende Gäste sind geladen, darunter Schwedens König Karl Gustav XVI und Königin Silvia.