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Abdulrazak Gurnah: Postkolonial präzise

Julia Hitz
10. Dezember 2021

Die Zeremonie findet in Stockholm statt, die Medaille hat Abdulrazak Gurnah bereits in London erhalten. Der auf Sansibar geborene tansanisch-britische Schriftsteller im Porträt.

Abdulrazak Gurnah präsentiert die goldene Medaille. Er trägt eine blaue Krawatte und einen grauen Anzug.
Schriftsteller Abdulrazak Gurnah mit seiner Nobelpreis-Medaille in London Bild: Matt Dunham/AP/picture alliance

Abdulrazak Gurnah zuzuhören, heißt, Geschichten von Migration zu lauschen, in denen der ewige Wechsel und beständige Umbruch gewiss sind. Es ist nicht die eurozentristische Mär der nationalen Unversehrtheit und Kontinuität, von der man liest. Es sind Geschichten des sich neu Erfindens, Transformierens und Weitermachens - zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten.

Weil die Realität manchmal eben auch deckungsgleich mit den Geschichten eines Romans ist, hat der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger die Aufmerksamkeit genutzt, um die britische Flüchtlingspolitik zu kritisieren. "Das hat etwas ziemlich Unmenschliches", sagte Gurnah am Dienstag (7. Dezember), einen Tag nach seiner Ehrung auf einer Online-Pressekonferenz.

Gurnah bezog sich auf den Streit zwischen England und Frankreich über den Umgang mit Migrantinnen und Migranten, die über den Ärmelkanal flüchteten. "Dabei werden diese Menschen mehr oder weniger zu dieser gefährlichen Art der Überquerung gedrängt", sagte er. England weigere sich, sichere Fluchtwege zu schaffen.

Sansibar: bewegende Insel-Geschichte

Das Wandern zwischen den Welten ist dem 1948 in Sansibar geborenen Abdulrazak Gurnah in die Wiege gelegt. Die Insel, auf der er aufwuchs ist ein Melting Pot, der seinen Namen verdient: Der Handel auf dem Indischen Ozean - mit Sklaven, Nelken und Kokosnüssen - prägte seit dem 10. Jahrhundert die Geschicke der Insel, erst durch persische, später durch arabische Händler. 1861 wurde Sansibar zum unabhängigen Sultanat, was es bis zur Kontrollübernahme der Briten 1890 blieb.

Heimat mit unterschiedlichen Kultur-Einflüssen: das Palastmuseum in Stone Town, SansibarBild: Peter Rchardson/robertharding/picture alliance

Auf dieses Sansibar bezieht sich Gurnah in seinem zweiten Roman "Paradise", der 1994 ins Deutsche übersetzt wurde. Er spielt an der ostafrikanischen Küste in der Zeit unmittelbar vor dem Zugriff der Kolonialmächte. In Gurnahs Erzählungen stehen aber nicht unbedingt die Kolonisatoren im Mittelpunkt, sondern die Beziehungen zur arabischen und indischen Welt überwiegen. So rücken sie auch einen Blick zurecht, der die afrikanische Geschichte stets nur im Kontext kolonialer Machtausübung und somit bezogen auf Europa erzählt.

Zivilisation ohne Europäer

Mit "Paradise" stand Gurnah 1994 auf der Shortlist für den Booker Prize, es war sein größter Erfolg bis zur Nobelpreisverleihung. Der Roman wurde von der Literaturwissenschaft als Spiegelgeschichte zu Joseph Conrads "Heart of Darkness" gelesen, die den Blick auf die Kolonisierten in Afrika umlenkt auf die Kolonisatoren.

"Ich will der Vorstellung widersprechen, dass der europäische Kolonialismus Ostafrika von der Trägheit zur Zivilisation führte. Die Realität ist komplexer, denn während vielen Jahrhunderten fanden viele andere Interaktionen statt, die bis heute andauern", so Gurnah in einem Interview zur Buchveröffentlichung von "By the Sea" ("Ferne Gestade") im Jahr 2001.

Die schwedische Botschafterin Mikaela Kumlin Granit übergibt den Nobelpreis für Literatur an den SchriftstellerBild: Matt Dunham/AP/picture alliance

"Ich stelle den Kolonialismus als eine Zerstörung dar - nicht von etwas Harmonischerem oder Besserem, doch von einer Wirklichkeit, die das Resultat von Verhandlungen zwischen verschiedenen Kulturen war." Dieser Aspekt werde von der Geschichtsschreibung üblicherweise übergangen, so Gurnah 2001 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung. 

Migration ins nass-kalte England

Mit "By the Sea" und seinem Vorgänger "Admiring Silence" ("Donnernde Stille"), in dem ein namenloser Ich-Erzähler nach 20 Jahren in England wieder nach Sansibar zurückkehrt, wendet sich Gurnah der Migration zu, die auch zu seiner Lebensrealität gehört. 1964 wurde die arabische Elite, die 200 Jahre lang über die afrikanische Mehrheit auf Sansibar herrschte, gestürzt. Es folgten Massaker, Gurnah verließ Sansibar Richtung England.

Mit 20 Jahren begann er zu schreiben, auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache Suaheli. Gurnah studierte in England und war viele Jahre lang und noch bis vor kurzem Professor für postkoloniale Literatur an der Universität Kent. Er befasste sich mit Schriftstellern wie dem nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka und dem Kenianer Ngugi wa Thiong'o, der in diesem Jahr ebenfalls unter den Favoriten für den Literaturnobelpreis war.

Überraschungswahl des Nobelpreis-Komitees

Gurnah ist der erste tansanische Autor, der den Nobelpreis erhält und der erste schwarze afrikanische Schriftsteller seit Wole Soyinka 1986. Obwohl weitestgehend unbekannt, war die Auszeichnung längst überfällig, sagt Alexandra Pringle, seine langjährige Verlegerin bei Bloomsbury dem britischen Guardian. "Er ist einer der bedeutendsten lebenden afrikanischen Schriftsteller, und nie hat jemand Notiz von ihm genommen. Das hat mich fast umgebracht."

Romane von Abdulrazak GurnahBild: AFP via Getty Images

Gurnah selbst wurde von dem Anruf aus Stockholm in der Küche überrascht. "Ich dachte, das wäre ein Witz", sagte der Autor laut der Nobelpreis-Website. "Solche Dinge sind normalerweise Wochen im Voraus im Umlauf." 

Deutschland hat Nachholbedarf

Von den zehn Romanen und mehreren Kurzgeschichten, die Gurnah schrieb, sind bislang nur fünf ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt der Roman "Die Abtrünnigen" 2006. Das stößt auch bei seinem deutschen Übersetzer Thomas Brückner auf Unverständnis, der seine Romane für ihren hintersinnigem Humor lobt. "Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtung seiner Figuren, ihres Innenlebens und auch dessen, was um diese Figuren und damit um den Autor herum vor sich geht", sagte er gegenüber der Presseagentur DPA.

Die Übersetzungen waren noch dazu in Deutschland vergriffen. Das ändert sich nun nach der Verleihung des Nobelpreises: Der Penguin-Verlag wird Neuübersetzungen von Gurnahs bereits in Deutschland erschienenen Büchern herausbringen und auch sein neuestes Werk zum ersten Mal ins Deutsche übersetzen: Der Roman "Afterlives" (2020) handelt von dem jungen Ilyas, der seinen Eltern von deutschen Truppen geraubt wurde und Jahre später in sein Heimatdorf zurückkehrt, um gegen sein eigenes Volk zu kämpfen. 

Die Welt jenseits von Abschottung und Eurozentrismus

Abdulrazak Gurnah erhält den Preis "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten", begründet der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, die Wahl.

Gurnah selbst sagte der Nobel-Stiftung in einem Interview, viele afrikanische Flüchtlinge kämen "nicht mit leeren Händen" nach Europa. Unter den Neuankömmlingen seien viele "talentierte, tatkräftige Leute, die etwas zu geben haben".

Eine Wahl also die zeigt, dass die Zeit reif war, eine andere Perspektive ins Zentrum zu rücken. Von den 118 Literatur-Nobelpreisträgerinnen und -preisträgern, die seit 1901 ausgezeichnet wurden, stammten 95 aus Europa oder Nordamerika - also mehr als 80 Prozent. Gurnah ist erst der fünfte Afrikaner, der den Preis erhält.

Der Schriftsteller bei den Feierlichkeiten in der schwedischen Botschaft in London Bild: Matt Dunham/AP/picture alliance

Aufgrund der Pandemie wurde ihm der Preis schon am Montag, den 6. Dezember überreicht, und zwar in der schwedischen Botschaft in London. Auch die Preisträger der anderen Disziplinen erhielten ihre Medaillen nicht in Stockholm - die deutschen Preisträger Klaus Hasselmann (Physik) und Benjamin List (Chemie) nahmen sie zum Beispiel am Mittwoch in Berlin entgegen. Die Festveranstaltung findet am 10.12., dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, ab 16:15 Uhr in Stockholm statt. Dort werden die Preise offiziell verliehen. In Stockholm lebende Gäste sind geladen, darunter Schwedens König Karl Gustav XVI und Königin Silvia.

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