Angela Merkel: Wie sie wirkt, wie sie ist
22. November 2015Manchmal überrascht sie Freund und Feind. Es war im Sommer 2015, als Flüchtlinge aus Nahost, Afrika und dem Balkan in Richtung Deutschland zogen. Nicht Tausende, nicht Zehntausende - es waren Hunderttausende. Als viele schon laut darüber nachdachten, wann denn nun die Grenzen geschlossen würden, verblüffte sie mit der Aussage: "Das Asylrecht kennt keine Obergrenze!" Merkel, die Vorsichtige, die Abwartende handelte. Plötzlich und entgegen aller Erwartungen. Die große Frage lautet seitdem: Weiß sie, was sie tut?
Man kann nicht sagen, Angela Merkel regiere in ruhigen Zeiten. Das Flüchtlingsthema ist ihre bisher größte Herausforderung und nun kommt auch noch die Terrorgefahr dazu. Nach den Anschlägen von Paris ist sie gefordert: "Wir wissen, dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror. Lassen Sie uns den Terroristen die Antwort geben, indem wir unsere Werte selbstbewusst leben und indem wir diese Werte für ganz Europa kräftigen. Jetzt mehr denn je."
Dabei war ihre Amtszeit nie frei von Prüfungen. 2013 wäre sie in Sankt Petersburg fast in einen politischen Hinterhalt gestolpert: Der russische Präsident Wladimir Putin will ihr, entgegen der Abmachung, bei der Eröffnung einer Ausstellung mit Exponaten der sogenannten Beutekunst, das Rederecht entziehen. Eine Brüskierung. Merkel droht mit der Verkürzung ihrer Russland-Reise und setzt damit Putin schachmatt. Ein Sieg und ein Beleg für Merkels Poker-Fähigkeiten. Auch sonst weiß sie sich durchzusetzen.
Die Erfolgsrezeptur: Schweigen, beobachten, spät handeln
Ganz andere Qualitäten zeigt sie beim Thema NSA (National Security Agency), dem Ausspähskandal der Geheimdienste - ein außen- wie innenpolitischer Gau für die Bundeskanzlerin. Ausgerechnet der engste Verbündete USA spioniert seine deutschen Freunde nach allen Regeln der Geheimdienstkunst aus. Merkel verwahrt sich dagegen: "Abhören, das geht unter Freunden wirklich nicht. Der kalte Krieg ist zu Ende."
Erst schweigt sie, dann lässt sie Empörung über ihre Sprecher verkünden. "Sie nimmt aus allen kontroversen Themen die Luft raus", hält ihr der Historiker Edgar Wolfrum vor. Sie sitzt Probleme aus und schließt sich am Ende der Mehrheitsmeinung an. Kritiker nennen ihren Politikstil "merkeln" - eine politische Gabe, die ihr Achtung und Verachtung gleichermaßen einträgt.
Ihre wahre Härte demonstriert sie auf europäischer Bühne. Seit 2008 ist die Kanzlerin vor allem als Krisenmanagerin gefragt. Weil Griechenland schwächelt, versucht sie den Euro zu retten: "Deutsche Politik, ich hab es immer und immer wieder gesagt seit 2010, ist darauf ausgerichtet, dass Griechenland Mitglied des Euroraums bleibt. Die Grundlagen unserer Politik, unserer Prinzipien sind immer die gleichen: Eigene Anstrengungen und auf der anderen Seite Solidarität." In Athen ist man nicht gut auf die deutsche Kanzlerin zu sprechen, eigentlich in ganz Südeuropa nicht. Doch die internationale Zustimmung für ihre Euro-Politik überwiegt.
Merkels Kosmos: Zahlen, Daten, Fakten
Man muss die Wurzeln Merkels kennen, um zu verstehen, wie sie wurde, was sie ist. Wohl noch nie in der Geschichte Deutschlands nach 1945 wurde ein Politiker so unterschätzt wie die Pastorentochter aus der ostdeutschen Provinz. Sie ist keine Missionarin, Pragmatismus geht ihr über alles.
Und sie kann alte Positionen revidieren. Nach dem Atom-Unfall in Fukushima wird aus der einstigen Atomkraft-Befürworterin die Atomkraft-Aussteigerin: "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und die bisherige unbestrittene Sicherheit unserer kerntechnischen Anlagen zum Maßstab auch des künftigen Handelns machen, ohne dass wir in Folge der jüngsten Ereignisse einmal innehalten".
Geschadet hat ihr das nicht. Im Gegenteil: Die Ziehtochter des Altkanzlers hat sich von "Kohls Mädchen" längst zur "Mutti" emanzipiert. Kurz: Sie hat Partei und Regierung im Griff. Dafür gibt es Gründe.
Spät und zufällig: Ihre politische Karriere
Spät ist Angela Merkel in die Politik gekommen. Eher zufällig als geplant. Als stellvertretende Pressesprecherin des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière bietet sich der damals 35-Jährigen die Chance, ihre brach liegenden Organisations- und Kommunikationsfähigkeiten anzuwenden. Erst kurz zuvor ist sie in die CDU eingetreten. Sie ist fleißig, nun wird sie ehrgeizig.
Unter Kanzler Kohl wird sie 1994 Ministerin für Umwelt und Reaktorsicherheit. Ein wichtiges und passendes Ressort für die promovierte Physikerin. In der damals wie heute sehr umstrittennen Frage, wie mit den strahlenden Abfällen der Atomwirtschaft umzugehen sei, zeigt sich Merkel kompromisslos: Kernkraft ist für sie beherrschbar und alternativlos - bis zur Nuklearkatastrophe von Fukushima.
Als 1998 Helmut Kohl die Bundestagswahl verliert, befindet sich die CDU in einem Schockzustand. Nicht so Angela Merkel. Sie sieht die Chance, ihren Platz in der Nach-Kohl-Ära zu festigen. Wolfgang Schäuble, der neue Vorsitzende der Union, macht sie zur Generalsekretärin der Partei. "Hauptsache wir machen Schlagzeilen", lautet ihr Credo in neuer Funktion. Nach der Spendenaffäre, in dessen Zentrum Kohl und Schäuble stehen, leitet sie den moralischen Sturz des Altkanzlers ein.
Nur das Schlusskapitel ihrer Amtszeit ist noch offen
Im April 2000 wird Angela Merkel zur neuen CDU-Vorsitzenden gewählt. Bei der Bundestagswahl 2005 ist sie die Spitzenkandidatin der Christdemokraten. Es reicht nur für eine Große Koalition mit der SPD. Doch sie ist die Kanzlerin!
Seit 15 Jahren führt Angela Merkel die CDU, seit zehn Jahren ist sie Kanzlerin. Am 22. November 2005 wurde sie erstmals vereidigt. Alle parteiinternen Widersacher hat sie bislang ins Leere laufen lassen. Und stets schafft es Merkel, lautlos zu agieren. Sie lässt die Männer in ihrer CDU einfach toben. In ihrem Jubiläumsjahr könnte sich ihr politisches Schicksal entscheiden. Längst hat sie sich in die Geschichtsbücher regiert, ihre Amtszeit ist eine Ära. Doch ihre Flüchtlingspolitik wird darüber entscheiden, wie sie einmal aus dem Kanzleramt scheiden wird.