Einstiger Musterschüler
11. Oktober 2012Wenn Myriam Zaluar an eine Protestaktion ihrer Zivilbewegung denkt, dann weiß sie nicht so recht, ob sie weinen oder lachen soll. Mit einem halben Dutzend Arbeitslosen hatte sich die Aktivistin vor einem Lissabonner Arbeitsamt getroffen, um gegen ihrer Ansicht nach gefälschte Zahlen zu protestieren. Die Arbeitslosenquote hat in Portugal mittlerweile fast 16 Prozent erreicht, doch nach Einschätzung von Experten müsste sie noch höher liegen, weil viele Erwerbslose einfach nicht eingeschrieben sind.
Zu der Protestaktion kamen mehr Polizisten und Journalisten als Demonstranten. Rund einen Monat später erhielt Myriam eine Vorladung vor Gericht: Die arbeitslose Lissabonnerin wurde angeklagt, werktags eine Demo vor 19 Uhr abends veranstaltet zu haben. Das sei nach einem fast vierzig Jahre alten Gesetz verboten. Wer hinter der Anzeige steht, weiß Myriam bis heute nicht: "Ganz offensichtlich geht jedoch jemand ganz bewusst gegen die Demonstranten vor. Auch andere Aktivisten wurden aus fadenscheinigen Gründe angeklagt."
Demonstranten machen mobil
Die zivile Protestbewegung in Portugal hat sich davon jedoch nicht aufhalten lassen. An einer spontanen Demonstration gegen die neuen Sparmaßnahmen der Regierung und das Reformprogramm der Troika, sollen Mitte September rund 1 Millionen Menschen beteiligt gewesen sein. So viele Portugiesen hatten noch nie ihrem Unmut auf der Straße Nachdruck verliehen. Mobilisiert wurden die Demonstranten nicht über Oppositionsparteien oder Gewerkschaften, sondern über Soziale Netzwerke im Internet. "Die wichtigste Erkenntnis ist: Der Protest geht unvermindert weiter," sagt Myriam Zaluar. "Denn die Krise hat sich verschärft und sehr viele Menschen wissen keinen anderen Ausweg mehr."
Das politische Klima in Portugal hat sich im vergangenen Monat grundlegend verändert. Die konservative Regierungskoalition stand kurz vor dem Aus, weil die kleinere Volkspartei ihre Kritik an den jüngsten Sparvorschlägen öffentlich vortrug. Die Regierung bemüht sich nun, die Risse zu kitten. Doch die Portugiesen müssen sich auf neue Sparmaßnahmen einstellen.
Suche nach politischen Alternativen
Die Einkommensteuer wird durchschnittlich im kommenden Jahr um fast 35 Prozent angehoben. Denn der Staat muss im kommenden Jahr rund 3 Milliarden Euro mehr einnehmen, und das obwohl die Troika aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank das Defizitziel für 2013 von 3 auf 4,5 Prozent nach oben korrigierte. Von der Regierungskrise versuchen die Linksparteien in der Opposition zu profitieren. Ein Gesamtbündnis der gemäßigten Sozialisten mit den Kommunisten und dem Linksblocks scheiterte bisher immer an unüberbrückbaren ideologischen Unterschieden. Das soll sich nun ändern.
Auf einem Kongress in der Universität Lissabon kommen Hunderte von politischen Linksaktivisten zusammen, um eine alternative Politiklinie zu entwerfen. Der riesige Hörsaal ist brechend voll. In den Reden erinnern viele Aktivisten an die Nelkenrevolution, die Mitte der 1970er Jahre dem autoritären Regime ein Ende gesetzt hatte. Freiheit und soziale Gerechtigkeit müssten nach Meinung vieler Kongressteilnehmer auch jetzt wieder in Portugal zurückgewonnen werden. "Wir wissen noch nicht wohin das Ganze jetzt führt," sagt der ehemalige Gewerkschaftsführer Manuel Carvalho da Silva im Gespräch mit der DW. "Wichtig ist, dass sich diese Bewegung nicht mehr aufhalten lässt. Historische Momente lassen sich nicht vorausplanen. Sie passieren einfach."
Auswandern wegen Perspektivlosigkeit
Vor der Treppe zum Aufgang in die Kongresshalle sitzen drei Studenten. Sie verlangen neue Ideen von der Politik, damit die Jugend von heute nicht zu einer verlorenen Generation wird. Die 20-jährige Clara Rita studiert Psychologie: "Einige meiner Kommilitonen haben das Studium schon abbrechen müssen, weil ihre Eltern sie nicht mehr unterstützen können." Ihr Studienkollege Vitor Azevedo steht kurz vor dem Abschluss. Auch er macht sich keine Illusionen: Um einen Job zu finden, muss er wahrscheinlich auswandern: "Das macht mich traurig. Ich mag meine Heimat und würde gerne hier leben. Aber es gibt kaum Perspektiven."