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Post COVID: Genesen und doch nicht gesund

16. Juni 2021

Derzeit gelten 3,6 Millionen Menschen als von der Corona-Infektion genesen. Doch einige leiden unter bleibenden Symptomen. Was kommt da auf Deutschland zu?

Blick auf den unteren Teil eines Klinikbetts, in dem man die Beine eines liegenden Patienten sieht
Bild: Lennart Preiss/AFP/Getty Images

Viele Deutsche diskutieren gerade darüber, die Maskenpflicht aufzugeben, wo man Urlaub machen kann oder ob die ganzen Corona-Maßnahmen wirklich notwendig waren - Edith Schmitz nicht. Sie kramt eine durchsichtige Plastiktüte hervor, in der die 58-Jährige so etwas wie ihr altes Leben aufbewahrt: viele Büschel von pechschwarzen langen Haaren. Ihr ganzer Stolz, bevor sie Anfang des Jahres an COVID-19 erkrankte. Durch die Spätfolgen verlor sie ihre ganze Haarpracht.

Zwar gibt es immer noch keine allgemeingültige Definition, aber Schmitz würde als klassischer Post COVID-Fall durchgehen. Zunächst ein schwerer Verlauf: Anfang Februar wird sie mit 41,7 Grad Fieber, dunklen Lippen und blauen Fingernägeln in ein Bonner Krankenhaus eingeliefert. Sie bleibt dort knapp drei Wochen, ehe es in die Rehabilitation geht.

Und dann Symptome, welche auch zwölf Wochen nach der Erkrankung noch vorhanden sind. Schmitz hat diese säuberlich auf einem Zettel notiert und rattert sie herunter, um nichts zu vergessen, was in letzter Zeit auch häufig vorkommt: Haarausfall, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, rasende Kopfschmerzen, Muskelzuckungen, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen und eben dieser Gedächtnisverlust.

Edith Schmitz, die heute wieder um vier Uhr aufgestanden ist, weil sie kaum ein Auge zu tun konnte, sagt: "Ich bin einfach nur jeden Tag gerädert, müde und fix und fertig. Alles, was sein muss, bekomme ich mit Mühe und Not auf die Reihe. Und versuche, irgendwie zu funktionieren."

Der Gang ins Büro - für Edith Schmitz ein Kraftakt

Das Virus hat aus der lebenslustigen Frau einen anderen Menschen gemacht, der sich in den letzten Wochen immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Ist der Kühlschrank leer? Dann am besten in einem Stadtteil einkaufen, in dem sie niemand kennt. Freunde und Familie anrufen? Nein, sonst kommt wieder der Satz: "Du bist doch gesund, Du musst nicht immer jammern." Ihr Selbstbewusstein von früher? Wie weggeblasen.

"Vor Corona war ich den ganzen Tag in Aktion: Haushalt, Kinder, Arbeit. Jetzt falle ich vor Müdigkeit um" - Edith Schmitz, die heute eine Perücke trägtBild: privat

In dem Land, in dem immer alles und alle funktionieren müssen, hat die Gesellschaft offenbar wenig Verständnis für Menschen wie Edith Schmitz. Sie hat da noch Glück, einen entgegenkommenden Arbeitgeber zu haben. Ihre Arbeit in einer Bildungseinrichtung erledigt sie im Home Office, einmal die Woche rafft sich Schmitz auf und fährt ins Büro. Was ihr das schöne Gefühl gibt, ihrer Krankheit die Stirn zu bieten, sie aber gleichzeitig auch unendlich viel Kraft kostet, berichtet sie.

"Plötzlich fallen mir Namen von Kollegen, die ich seit fünf Jahren kenne und mit denen ich den ganzen Vormittag zusammen war, von einem Moment auf den anderen nicht mehr ein", sagt Schmitz, "und dann weiß ich teilweise gar nicht mehr, wie ich Rechnungen schreibe, obwohl ich seit Jahren die Buchhaltung mache. Ich habe manchmal komplette Blackouts."

Aufgeben - für Pia Chowdhury keine Option

Zum Glück hat Edith Schmitz ja noch Pia Chowdhury, obwohl die eigentlich mit den gleichen Problemen kämpft. Chowdhury sitzt in einem Bonner Café und erzählt ihre Krankheitsgeschichte so detailgetreu, als ob sie seit einem Dreivierteljahr penibel darüber Tagebuch geführt hätte. Was sie nicht getan hat, es ist einfach ihre Art, offensiv mit Post COVID umzugehen.

Diese Geschichte mit vielen Tiefs und wenigen Höhen beginnt bereits Mitte Oktober mit der Ansteckung, handelt von vielen Krankheitsaufenthalten, von Ärzten, welche die Symptome nicht ernst nehmen und sich sogar über die 41-Jährige lustig machen.

"Das Wichtigste ist, wieder Struktur in den Alltag zu bekommen" - Post Covid-Patientin Pia ChowdhuryBild: Oliver Pieper/DW

Sie dreht sich um wochenlange Selbstisolationen, die Angst, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen und um die 20 Symptome, die sie schon mal gleichzeitig hat, die wie Wellen aus dem Nichts kommen und ab und zu auch wieder verschwinden. Und natürlich von dem Gefühl der Hilflosigkeit, am Ende fast vollkommen auf sich allein gestellt zu sein.

Chowdhury, die sich vor kurzem zum ersten Mal nach einem halben Jahr wieder in einen Supermarkt getraut hat, sagt trotzdem: "Es ist natürlich zermürbend, monatelang mit gerade einmal 41 Jahren so krank zu sein und nicht einmal ansatzweise an seine Leistungen heranzukommen. Aber Aufgeben ist für mich keine Option!"

Endlich Verständnis in der Selbsthilfegruppe

Schon im November klinkt sie sich bei einer britischen Unterstützergruppe für Post COVID ein, tauscht sich mit Betroffenen aus und lauscht einer Debatte mit Parlamentariern in London, als es dort schon viel früher als hierzulande um die Spätfolgen von Corona geht. Weil sie merkt, wie gut ihr das tut, gründet sie mit Hilfe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes im April eine Selbsthilfegruppe in Bonn. Der Name ist Programm: "Post COVID - genesen und doch nicht gesund".

"Es gibt in dieser Gruppe einfach das pure Verständnis, wenn man immer wieder hört, hey, ich habe die gleichen Symptome. Es tut uns allen total gut. Außerdem will ich die Krankheit nicht umsonst durchleben, sondern auch anderen, die später erkranken, helfen", sagt sie. 18 Post COVID-Kranke machen mit, auch Edith Schmitz. Eine zweite Gruppe ist schon in Planung.

Chowdhury ist, wenn man so will, Mannschaftskapitänin und guter Geist des Teams, schickt unermüdlich Links zu neuen Studien in die WhatsApp-Gruppe: Sollte ich mich trotz Infektion impfen lassen? Wie gefährlich sind die Mutationen? Wie lange sind wir immun? Es sind Fragen wie diese, auf die alle zwei Wochen per Videokonferenz Antworten gesucht werden.

Die Post COVID-Patientin mit dem 20 Prozent-Akku

Pia Chowdhury, die jetzt auch an einer Studie der Post COVID-Ambulanz in Köln teilnimmt, geht es mittlerweile ein wenig besser, Schritt für Schritt tastet sie sich, wenn auch mühsam, in ihr altes Leben zurück. Doch sie weiß, dass der Weg noch lang ist: "Ich sage immer, ich habe einen defekten Akku, der nur bis 20 Prozent auflädt, als ob er einen Wackelkontakt hat. Ich muss immer abschätzen, wann er wieder leer ist."

Würde ihr der Gesundheitsminister gegenüber sitzen, würde sie ihm raten, in den Corona-Statistiken bei den Genesenen auch eine Kategorie für Post COVID-Fälle einzurichten. Sie würde ihn bitten, ein Wort dafür einzulegen, dass Post Covid-Betroffene leichter an Hilfsmittel kommen wie etwa einen Rollstuhl.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) präsentiert stolz den digitalen ImpfpassBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Und sie würde Jens Spahn auffordern, das Thema Corona-Spätfolgen endlich mit mehr Forschung auf eine wissenschaftlichere Ebene zu hieven, wo nicht nur die Betroffenen, sondern alle darüber reden können. Chowdhury würde ihm sagen: "Bitte kümmern Sie sich um das Thema Post COVID!"

3,6 Millionen Genesene, die nicht alle genesen sind

Wer wissen will, was da auf Deutschland in den nächsten Monaten und vielleicht Jahren zurollen könnte, muss mit Jördis Frommhold sprechen. Die Chefärztin der Median-Klinik in Heiligendamm ist die Expertin schlechthin für Post COVID, in Mecklenburg-Vorpommern wurde sie jüngst für ihr Engagement zur "Frau des Jahres 2021" gekürt.

"Laut einer Studie in England mit 8000 Patient*innen hatte jeder Zehnte nach zwölf Wochen noch Long-COVID-Symptome. Andere Studien gehen sogar von 20 Prozent aus, weil ja viele gar nicht erst im Krankenhaus landen", sagt sie. Auf Deutschland herunter gebrochen bedeutet das: Bei 3,6 Millionen Genesenen leiden 360.000 Menschen an den Spätfolgen von Corona, das sind noch 30.000 mehr als alle Einwohner der Stadt Bonn.

"Wir müssen in Deutschland Akut- und Reha-Medizin verknüpfen und Kompetenzzentren etablieren" - Chefärztin und Post Covid-Expertin Jördis FrommholdBild: Privat

"Wenn ich diesen Patient*innen keine Reha-Angebote mache, dann sind auch die volkswirtschaftlichen Schäden immens. Wir können jetzt noch überhaupt nicht abschätzen, wie hoch die Quote der Erwerbsunfähigen sein wird", sagt Frommhold.

Die Klinik an der Ostseeküste bringt normalerweise Menschen mit Atemwegserkrankungen, Allergien und Psychosomatik wieder in die Spur und hat sich jetzt auch auf die Rehabilitation von Post COVID spezialisiert. Der Andrang ist immens. Die Leitung stockte schon vor Monaten die Zahl von 120 auf 140 Betten auf, der Anteil der Patienten und Patientinnen mit Post COVID-Symptomen ist von zehn Prozent im letzten Sommer auf fast 90 Prozent gestiegen.

Anlaufstellen für Menschen mit Corona-Spätfolgen fehlen

"Ich behandle jetzt noch Patient*innen aus der ersten Welle. Wenn Sie sich heute für die Rehabilitation hier in Heiligendamm anmelden, bekommen Sie frühestens im Januar einen Platz," sagt Frommhold und kritisiert die nicht ausreichenden Reha-Angebote deutschlandweit: "Ich glaube, bei den Themen Post COVID und Long COVID hat Deutschland ein wenig geschlafen."

Die Ärztin unterscheidet zwischen "Post und Long COVID-Patient*innen", obwohl Post COVID oft auch als Überbegriff für alle Corona-Spätfolgen verwendet wird. Für Frommhold leiden Menschen wie Edith Schmitz unter Post COVID, also ein schwerer Verlauf der Erkrankung mit mehr oder weniger unmittelbaren Folgen.

Genesen, aber nicht gesund

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An Long COVID Leidende sind dagegen die, die einen milden Verlauf der Krankheit hatten, sich zunächst wieder fit fühlten, ehe nach einem oder drei Monaten plötzlich wieder Symptome auftauchen. Die Betroffenen sind häufig chronisch erschöpft und kurzatmig. Gerade letztere Gruppe bereitet Jördis Frommhold Kopfschmerzen.

"Post COVID-Patienten mit schwersten Verläufen kommen bei uns mit einem Leistungsniveau von 2 bis 4 an, also sehr schlecht, und gehen mit 7 oder 8 - bei einer Skala von 1 bis 10, das ist natürlich ein Riesenerfolg. Aber Long Covid-Patienten sind nicht in diesem Maße zu stabilisieren. Sie fallen in unserem Gesundheitssystem hinten über und bräuchten viel mehr Anlaufstellen."

Post COVID und der Vorwurf, ein Simulant zu sein

Zum Beispiel der 30-jährige Rettungsassistent und Feuerwehrmann, den sie gerade behandelt hat. Braungebrannt, kräftig und groß, aber nicht mehr in der Lage, zwei Treppen hochzusteigen. Oder der 17-Jährige, der jetzt in Heiligendamm zur Rehabilitation eingetroffen ist. Scheinbar kerngesunde Menschen, denen das persönliche Umfeld oftmals die Beschwerden nicht abkauft.

"Eine Frau, Anfang 30, schon seit einem Jahr mit Symptomen, hat neulich mit ihrem Mann eine längere TV-Reportage über die Folgeschäden von COVID-19 gesehen", berichtet Frommhold: "Sie saß hier in Tränen aufgelöst und konnte gar nicht fassen, dass ihr Mann nach einem Jahr zu ihr sagte: 'Mensch, jetzt wo ich die Reportage gesehen habe, denke ich nicht mehr, dass du immer simulierst'."

"Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?"

In Deutschland, weit über ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, sei die Akzeptanz für Long- oder Post COVID-Patienten und Patientinnen wie Edith Schmitz oder Pia Chowdhury immer noch sehr gering. "Wenn jemand sich ein Bein gebrochen hat, dann sieht man das. Wenn jemand eine Narbe nach einer Operation hatte, sieht man das auch. Aber diesen Patient*innen sieht man nichts an", sagt Jördis Frommhold.

Umso mehr ärgert es die Ärztin, dass hierzulande immer der Vorwurf mitschwingt, die Betroffenen seien Simulanten, würden übertreiben und sich grundlos krank melden: "Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Diese Menschen wollen nicht krank sein. Die haben keine Lust, zu Hause zu sitzen. Sie wollen eigentlich nur ihr altes Leben zurück."

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