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Politik

Chile: Stillstand oder Wandel?

Diego Zuniga
20. November 2021

Am 21. November waren knapp über 15 Millionen Chilenen aufgerufen einen neuen Präsidenten zu wählen. Die zwei aussichtsreichsten Kandidaten polarisieren die Gesellschaft und eine Stichwahl ist wahrscheinlich.

Chile I Wahlen I Präsidentschaftsdebatte
Kandidaten der Präsidentschaftswahl in Chile (von links): Gabriel Boric, Jose Antonio Kast, Yasna Provoste, Sebastián Sichel, Eduardo Artes, Marco Henriquez-OminamiBild: Esteban Felix/AP/picture alliance

Die Wahlen am Sonntag waren die wichtigsten der letzten 30 Jahre und sogar der kommenden Jahrzehnte - das haben die Präsidentschaftskandidaten, die Chile ab März 2022 regieren wollen, wiederholt erklärt. Und auch wenn dies ein wenig übertrieben klingt, so trifft es doch zu, dass diese Wahlen, bei denen auch die Parlamentarier gewählt werden, in einem für Chile entscheidenden Moment stattfinden. Da geht es nicht nur um den zuletzt durch die "Pandora Papers" stark unter Druck geratenen Präsidenten Sebastián Piñera, der gar nicht mehr antritt, sondern vielmehr um die Verfassungsgebende Versammlung, die nach den schweren Unruhen im Oktober 2019 dem Land eine neue Verfassung geben soll. Die politische Zersplitterung und Polarisierung Chiles macht eine zweite Runde im Dezember sehr wahrscheinlich.

Den Umfragen zufolge sind die wahrscheinlichsten Kandidaten für ein Stichwahl José Antonio Kast (Frente Social Cristiano, rechtsnationalistisch) und Gabriel Boric (Apruebo Dignidad, links), was ein polarisiertes Szenario darstellt, wie es das südamerikanische Land seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 nicht mehr erlebt hat. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Umfrageprognosen bei praktisch allen Wahlen seit den sozialen Unruhen 2019 falsch lagen, sodass viele Analysten die Möglichkeit nicht ausschließen, dass auch andere Kandidaten in die Stichwahl kommen könnten.

Gabriel Boric vom kommunistisch-sozialistischen Bündnis Apruebo DignidadBild: Esteban Felix/AP Photo/picture alliance

"Ja, es ist eine unvorhersehbare Wahl - viel mehr als in früheren Jahren", sagt Jorge Saavedra, Professor am Fachbereich Soziologie der Universität Cambridge (UK) und Buchautor. "In der zweiten Runde werden diejenigen, die nicht gewinnen, sich für denjenigen entscheiden, der ihren Idealen am nächsten oder am weitesten entfernt ist", sagt er. Für den Forscher ist es auch wichtig zu sehen, wie die "Bedrohung für das Land" durch den jeweiligen Konkurrenten dargestellt wird, ein Faktor, der viele Wähler dazu veranlassen könnte, für das vermeintlich "kleinere Übel" zu stimmen.

Eine Wahl der Extreme

"Umfragen sind irreführend, man muss wissen, wie man sie liest", sagt Kenneth Bunker, politischer Analyst und Experte für Wahlverhalten. "Die Trends zeigen, dass Kast und Boric an der Spitze stehen. Jedoch hat für ihn "abgesehen von Boric niemand eine zweite Runde sicher". Die Unsicherheit wäre, ob der konservative Kandidat der Regierungskoalition und ehemaliger Minister unter Präsident Sebastián Piñera, Sebastián Sichel, die Trendwende schafft und anstelle von Kast, einem Rechtsaußen, der sich zum Regierungsgegner erklärt hat, in die zweite Runde einzieht.

Wenn Kast und Boric in die Stichwahl kommen, was die meisten Experten für die wahrscheinlichste Option halten, ist die extreme Polarisierung dieser Wahl perfekt. "Manche sagen, Chile sei schon seit 1989 polarisiert, aber die Wahrheit ist, dass beide [Kandidaten] an den politisch entgegengesetzten Rändern stehen und die radikalsten Positionen unter denjenigen anbieten, die sich zur Wahl stellen.

Die nostalgische Zuflucht

"Eine Mehrheit von Bürgern fordert die Änderung des politischen Modells. Die knapp 80 Prozent, die für die Abschaffung der neoliberalen Verfassung aus der Zeit des Diktators Augusto Pinochets gestimmt haben, haben dies gezeigt", so Jorge Saavedra.

Jose Antonio Kast von der rechtsnationalistischen Frente Social CristianoBild: Esteban Felix/AP Photo/picture alliance

Für ihn suchen die Wähler nach Optionen für die Zukunft - obwohl der rechte Flügel dabei Inspiration in der von ihnen idealisierten Zeit unter Pinochet sucht. "Es ist die Suche nach einem etwas nostalgischen Zufluchtsort in einem Gestern, in dem es im Land - aus ihrer Sicht - weniger Kriminalität und mehr Ordnung gab. Wie erklärt sich diese Rückwärtsgewandtheit der politischen Rechten? Zum einen waren sie nie in der Lage, ein Narrativ und eine Praxis zu entwickeln, die sie weniger diktatorischen, fortschrittlicheren und demokratischeren Positionen nähergebracht hätte. Zum anderen stellen sie sich selbst als eine Option dar, um das Gefühl der Instabilität und Unsicherheit im Lande zu beseitigen", so der Wissenschaftler der Universität Cambridge.

"Es gibt zwei Begriffe, die erklären können, warum Kast und Boric an der Spitze der Umfragen stehen: Ordnung und Wandel. Kast steht für Ordnungspolitik und Boric für den Wandel", so Kenneth Bunker. Und seiner Ansicht nach habe die Senatspräsidentin und einzige Frau im Rennen um das Amt des Präsidenten, Yasna Proveste, einen sehr treffenden Satz im Wahlkampf gesagt: Boric stünde für Wandel ohne Ordnung und Kast für Ordnung ohne Wandel.

Doch unabhängig davon, wer letztendlich die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden mag, wird sein politisches Überleben davon abhängen, ob er oder sie letztendlich eine Mehrheit im Parlament und im Senat hinter sich bringen kann. Nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl werden weiterhin die Themen "Demokratie, Autoritarismus und die Stabilität des Landes" im Zentrum der Debatte stehen, meint Saavedra. Der Analyst Bunker geht davon aus, dass sich die Kandidaten vor der Stichwahl in die politische Mitte bewegen und einen "schrittweisen und moderaten Wandel versprechen" werden, um die Unentschlossenen zu überzeugen.

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