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"Prävention muss in die Schulen hinein"

Matthias von Hein21. November 2015

Die meisten Attentäter von Paris waren belgische und französische Staatsbürger. Damit stellt sich die Frage, wie sich hausgemachtem Extremismus vorbeugen lässt. Ein Gespräch mit dem Präventions-Experten Thomas Mücke.

Junge, meist salafistische Anhänger jubeln am 20.04.2011 in der Innenstadt von Frankfurt am Main (Hessen) dem umstrittenen Prediger Vogel zu. (Foto: Boris Roessler/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Deutsche Welle: Nach den Attentaten von Paris ist viel von verstärkter Polizeiarbeit, Geheimdienstarbeit und militärischen Angriffen auf den sogenannten "Islamischen Staat" die Rede. Aber im öffentlichen Raum steht auch die Frage: Wie kann man junge Menschen vor dem Abgleiten in radikalen Islamismus und schließlich Terrorismus schützen? Welche Möglichkeiten zur Intervention hat die Gesellschaft?

Thomas Mücke: Wir können daran arbeiten, dass die extremistische Szene weniger Möglichkeiten hat, junge Menschen zu rekrutieren. Für meinen Berufsbereich ist es wichtig, dass wir in die Prävention hineingehen - das heißt: in die Schulen hineingehen. Dort gilt es, über die Szene aufzuklären. Wir müssen den Schülern vermitteln: Wie agitiert die extremistische, salafistische Szene? Wie versuchen die, Jugendliche auf ihre Seite zu bringen?

Man muss sich im Unterricht auch mit den Videos auseinandersetzen. Den Videos (von Islamisten, Anm. d. Red.), die sie sich anschauen im Netz und über die sie sich auch radikalisieren können, wenn man nicht mit ihnen darüber spricht. Wir machen deutlich, wie die Szene versucht, junge Menschen zur Ausreise nach Syrien zu bewegen. Das alles kann man schon vorab mit jungen Menschen diskutieren und das ist wichtig im präventiven Bereich.

Übrigens fällt eines auf: Alle jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, die in dieser Szene waren oder die auch in Syrien gewesen sind, waren religiöse Analphabeten, bevor sie in diese Islamistenszene hineingerieten. Die haben zwar religiöse Wurzeln, aber wenig Kenntnisse über ihre Religion. Deshalb ist wichtig, im schulischen Bereich präventiv auch über die Religion des Islam aufzuklären: Dass der Islam mit extremistischen Gedanken nichts zu tun hat.

Was sind Ihre Erfahrungen mit Jugendlichen, die schon radikalisiert sind?

Wir arbeiten bundesweit bereits mit über 100 jungen Menschen, die da gefährdet sind. Das Interessante ist, dass man diese jungen Menschen tatsächlich erreichen kann. Das ist zwar mühevoll am Anfang, aber es lässt sich herstellen. Wir beobachten, dass es möglich ist, diese jungen Menschen für andere Sichtweisen zugänglich machen, dass sie dadurch anfangen zu zweifeln. Und anfangen, Fragen zu stellen. Dann sind wir in einem guten Prozess, in dem wir sie aus dieser Szene auch wieder herausführen können.

Präventionsexperte Thomas MückeBild: VPN/Klages

Das gilt auch für Syrien-Rückkehrer. Wir machen bei vielen Syrien-Rückkehrern die Erfahrung, dass diese jungen Menschen einen Realitätsschock erlebt haben und anfangen, Fragen zu stellen, so dass man in der Diskussion ist. Also: Auch diese Jugendlichen sind durchaus erreichbar. Sicherlich nicht diejenigen, die schon hasserfüllt nach Syrien ausgereist sind und nichts anderes vorhatten, als ihre Gewalt und ihren Hass auszuleben. Die sind am schwierigsten erreichbar.

Was wissen Sie aus Ihrer Praxis über die Motive, die junge Menschen in die Arme von Extremisten treiben?

Die Radikalisierungsverläufe sind nicht immer gleich. Zwar gibt es bei vielen ähnliche Merkmale: Sie kommen oft aus Familien mit alleinerziehenden Eltern. Oder sie haben wenig Erfolgserlebnisse in der schulischen Laufbahn. Oder sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht angenommen und akzeptiert. Aber es gibt auch junge Menschen, die aus ganz intakten Familien kommen. Die können das Kind eines Lehrers, einer Lehrerin sein, eines Polizeibeamten. Also: Es kann jeden treffen. Das sind wohlgemerkt auch nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund. Sondern es sind auch Kinder von Eltern, die keine Migrationsgeschichte haben.

Das passt insofern, als die Szene sehr genau weiß, was die emotionalen Bedürfnisse von Jugendlichen sind, die eine Identität suchen, die vielleicht auch gerade in einer kritischen Lebensphase sind. Die Szene gibt vor allem das Gefühl von Geborgenheit, von Halt und von Gemeinsamkeit. Das sind die emotionalen Bedürfnisse, die da befriedigt werden.

Dann beginnt langsam ein Prozess, den man als Gehirnwäsche betrachten kann. Die jungen Menschen hören auf, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die anders denken. Oft versuchen, in der Familie oder im Freundeskreis zu missionieren. Aber wenn das nicht klappt, brechen sie diese sozialen Kontakte ab. Und dann bekommen sie nur noch eine Sichtweise. Das ist oft verbunden mit Bildern wie: Muslime werden überall verfolgt. Und es werden Bilder gezeigt von vergewaltigten Frauen, von getöteten Kindern. Es wird sehr viel mit Emotionen gearbeitet. Schließlich kommt als letzter der Schritt, wo gesagt wird: Wie kannst du noch hier in Deutschland unter deiner warmen Decke schlafen, wenn du weißt, dass deine Brüder und Schwestern getötet und vergewaltigt werden?

Da wird ein sehr starker moralischer Druck aufgebaut. Der kann dann dazu führen, dass es tatsächlich zu dem Entschluss kommt: Ich reise aus. Nicht bei jedem, um zu kämpfen. Sondern um in irgendeiner Art und Weise zu helfen. Wenn sie dann im Lager sind, werden sie als erstes gefragt: Selbstmordanschlag oder gehst du an die Front? Für viele ist das ein Realitätsschock. Und in manchen Fällen kann man diese jungen Menschen, die sich haben instrumentalisieren lassen, wieder zurückholen.

Gibt es Dinge, die Eltern auffallen könnten, auf die Eltern achten müssen?

Wenn Eltern merken, dass ihr Kind soziale Kontakte plötzlich abbricht. Wenn sie merken, dass sich das Äußere verändert - da gibt es sehr klare Hinweise. Wenn sie ihr Kind nicht mehr wiedererkennen. Wenn es sich anders ausdrückt, nur noch in schwarz und weiß. Wenn sie vor allem merken, dass ihre Kinder versuchen, sie in irgendeiner Weise vom wahren Islam zu überzeugen. Das sind Merkmale, wo man sofort eine Beratungsstelle aufsuchen sollte, um sich beraten zu lassen.

Aber inzwischen reagiert die Szene schon: Bei manchen findet man keine Erkennungszeichen mehr vor, weil die Szene die schon darauf vorbereitet, dass sie nicht auffallen. Dann wird es schwierig.

Gibt es denn genügend solcher Beratungsstellen? Wie müsste wirksame Präventionsarbeit aufgestellt sein?

In Deutschland sind wir im europäischen Vergleich nicht schlecht aufgestellt. Es hat sich sehr viel bewegt in den vergangenen Monaten. Viele Bundesländer haben Länderprogramme. Wir haben ein großes Bundesprogramm. Es konnte vieles an Angeboten entwickelt werden. Natürlich sind Berater und Beraterinnen sehr überlaufen. Denn es zeigt sich: In dem Moment, wo Beratungsstellen da sind, nimmt die Zahl der Unterstützung Suchenden sofort um ein Vielfaches zu.

Für Eltern gibt es auch noch die zentrale Hotline beim Bundesamt für Flüchtlinge und Migration. Da kann man sich hinwenden, wenn man Angst hat, dass sein Kind in die extremistische, salafistische Szene abgleitet.

Der Pädagoge und Politologe Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Violence Prevention Networks. Das bundesweit arbeitende Experten-Netzwerk berät gegen Radikalisierung Jugendlicher und arbeitet auch mit extremistisch motivierten Gewalttätern.

Die Fragen stellte Mathias von Hein.

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