Prag kämpft mit den Folgen des Übertourismus
8. November 2024Es ist ein Wochentag im Herbst, kurz vor sechs Uhr abends in der tschechischen Hauptstadt Prag. In der Nähe des Rathauses auf dem Prager Altstädter Ring sieht es so aus, als ob sich Menschen zu einer riesigen Demonstration versammelt hätten. Aber der Schein trügt, es handelt sich nur um die vielen tausend Touristen, die unter der berühmten mittelalterlichen Prager astronomischen Uhr auf den Schlag der sechsten Stunde warten. Dann beginnt die Altstädter astronomische Uhr mit den Apostelfiguren und einem krähenden Hahn ein Schauspiel, das die meisten der wartenden Touristen aus aller Welt mit ihren Handys filmen. "Es ist wunderschön, das Warten hat sich gelohnt, ein tolles Erlebnis", sagt George, ein 40-Jähriger aus Chicago in den USA, der die Hauptstadt der Tschechischen Republik als eine von fünf Stopps auf seiner zweiwöchigen Europareise hat.
Vor dem Saal der nahe gelegenen Zentralen Stadtbibliothek in Prag steht eine lange Schlange von anderen Touristen. Nicht, weil sie sich so sehr für eine der größten Bibliotheken der Tschechischen Republik interessieren, die täglich von Tausenden von Pragern zum Ausleihen von Büchern genutzt wird. Ihr Interesse gilt vielmehr einer Skulptur des slowakischen Künstlers Matej Kren, die aus achttausend Büchern besteht und in der Eingangshalle der Bibliothek zu sehen ist. Im Inneren der Skulptur befinden sich zwei Spiegel, die die Illusion eines unendlichen Raums erzeugen.
Der "Endlose Brunnen", wie die Skulptur genannt wird, steht seit 1998, und viele Jahre lang hat nur gelegentlich jemand einen Blick hineingeworfen. Doch dann fand er seinen Weg in den Lonely Planet und von dort in andere Prag-Reiseführer und soziale Netzwerke. Für das Bibliothekspersonal und die Besucher war anschließend die Touristenhölle los. "Wir wissen nicht, was wir tun sollen, wir sind eine öffentliche Einrichtung, wir können keinen Eintritt verlangen oder Touristen in irgendeiner Weise einschränken. Aber es ist oft unerträglich", sagt eine Bibliothekarin zu einer älteren Besucherin, die Schwierigkeiten hat, durch die Touristenmassen in die Bibliothek zu gelangen.
Ende des Sauftourismus
Dies sind nur zwei von vielen Beispielen dafür, dass das historische Zentrum der tschechischen Hauptstadt Prag unter "Übertourismus", also zu vielen Touristen, leidet. Prag ist eine der von Touristen am meisten besuchten Städte Europas - in vielen Reiseführern wird sie als "Goldenes Prag" und als schönste europäische Stadt angepriesen. Nun allerdings hat die Prager Stadtverwaltung beschlossen, zumindest gegen eine der ärgerlichsten Erscheinungsformen des Übertourismus vorzugehen - gegen die organisierten abendlichen Kneipentouren, die für Touristen seit einigen Jahren angeboten werden. Dabei werden Gruppen von Prag-Besuchern abends und nachts zum Festpreis durch Kneipen geführt und können trinken, so viel sie wollen. Das ist nun von 22:00 Uhr abends bis 6:00 Uhr früh verboten.
"Ich glaube, dass wir damit den Bewohnern unserer Stadt endlich den Schlaf erleichtert haben. Prag ist ein Ort für alle, die sich anständig und rücksichtsvoll verhalten", sagt Jiri Pospisil, ehemaliger Europaabgeordneter und aktueller Prager Stadtrat von der Partei TOP 09, zu deren Aufgabenbereich auch der Tourismus gehört, der DW.
Tatsächlich freut das Mitte Oktober verhängte Verbot solcher Kneipentouren viele Bewohner des Prager Stadtzentrums. "Vor allem im Sommer musste ich oft um drei Uhr morgens die Polizei zu diesen Gruppen rufen. Wenn sich eine Gruppe von dreißig Betrunkenen mitten auf der Straße unter deinen Fenstern niederlässt, ist das unerträglich", sagt Tomas Vich, ein Architekt, der im obersten Stockwerk eines Gebäudes hinter der Tyn-Kathedrale in der Nähe des Altstädter Rings wohnt, der DW.
Immer weniger Einheimische im Zentrum
Die lautstarken nächtlichen Saufgelage von Touristen waren nicht das einzige, was Vich störte. Sein anderes Problem heißt: Airbnb. Die Vermietung von Wohnungen für Touristen über das Internet hat in Prag ein erschreckendes Ausmaß erreicht - es gibt immer weniger Einheimische, die noch im Prager Stadtzentrum leben. "Das Schlimmste ist nicht die von betrunkenen Touristen vollgekotzte Treppe", sagt Vich, "sondern die Tatsache, dass in dem Haus, in dem Familien mit kleinen Kindern leben, Leute herumlaufen, von denen man nichts weiß."
In der Tschechischen Republik ist es zwar gesetzlich verboten, Touristen in Wohnungen unterzubringen, aber der Staat verfolgt Verstöße gegen das Gesetz nicht. Abgesehen von den oben genannten Auswirkungen gibt es noch weitere negative Aspekte. "Wir sind uns bewusst, dass diese Beherbergungsbetriebe die Wohnungssituation in Prag verschlechtern", gibt Pospisil zu. Dennoch hat Prag bisher nicht beschlossen, gegen die Wohnungsvermietung an Touristen entschieden vorzugehen.
Wichtiger Wirtschaftszweig
Der Grund dafür ist die enorme Bedeutung des Tourismussektors für die tschechische Wirtschaft, insbesondere für Prag. Nach Angaben der staatlichen Agentur CzechTourism betrugen die Einnahmen aus dem Tourismus 2023 umgerechnet rund sieben Milliarden Euro. Damit und mit rund einer Viertelmillion Beschäftigten ist der Tourismus für die Tschechische Republik wichtiger als beispielsweise die Landwirtschaft.
Im vergangenen Jahr übernachteten 22 Millionen ausländische Touristen in der Tschechischen Republik, davon über acht Millionen in Prag. Dieses Jahr läuft es für das Land sogar noch besser als vergangenes Jahr. Die meisten Touristen kommen aus den Nachbarländern, aber auch die Zahl der Touristen aus Übersee nähert sich in diesem Jahr wieder den Zahlen von vor der Corona-Pandemie an.
Manche Experten wollen jedoch nicht generell von "Übertourismus" sprechen - sie sehen nur wenige Orte davon betroffen, etwa das historische Zentrum von Prag. "Etwa 1,3 Millionen Menschen leben in Prag und etwa 8 Millionen besuchen die Stadt jedes Jahr. Die Zahlen sind also gar nicht so schlimm", sagte Karel Vyrut, ein bekannter tschechischer Tourismusexperte, unlängst im Tschechischen Rundfunk. "Das Problem ist vielmehr die kurzfristige Unterbringung in Wohnungen, die nicht unter Kontrolle ist. Sieben von zehn Menschen, die in der Altstadt wohnen, sind Touristen."