Prag – Neues Leben in der alten Stadt
13. Oktober 2015 Unter einer der Moldau-Brücken ist am besten zu beobachten, wie die Prager ihre Stadt allmählich wieder erobern: Martin Kontra steht hier, den Blick über das Wasser auf die Burg der tschechischen Hauptstadt gerichtet, neben ihm eine lange Schlange vor dem Bierausschank. "Als wir hier angefangen haben", ruft er in die Musik der Live-Band, "war das hier ein toter Ort. Daran wollte ich etwas ändern."
An jedem Sommerabend pulsiert nun das Prager Leben hier am Fluss, bis weit in die Nacht sind die Flaneure unterwegs. Bajkazyl heißt der Laden, den Martin Kontra eröffnet hat - eine Mischung aus Fahrradwerkstatt, Kulturforum und Freiluft-Bar.
Die Moldau als Lebensader
Am Uferstreifen mitten in der Innenstadt treffen sich bei gutem Wetter Tausende Prager. Manche bringen ihre eigene Weinflasche mit, andere versorgen sich an einem der Stände mit frisch gezapftem Bier. Und alle genießen die Live-Bands, die jeden Abend spielen. Von der Moldau weht eine frische Brise herüber. So beliebt ist der Treffpunkt inzwischen, dass umfunktionierte Lastkähne am Ufer festmachen: Mit Bierbänken oder einem schwimmenden Theatersaal verlagern sie das Geschehen auf den Fluss.
"Das kulturelle Leben spielt sich wieder mehr an der Moldau ab, vielleicht ein bisschen nach dem Pariser Modell", sagt Martin Ourednicek. Der Wissenschaftler von der Karls-Universität forscht zur sozialen Geographie der Stadt. "Da trifft das alte Sprichwort wieder zu, nach dem die Prager in der Moldau getauft sind - das ist ein Teil unserer Identität."
Vor allem aber ist der Wandel des Uferstreifens das sichtbarste Zeichen einer Neuerung in der Stadt: Die Prager fangen an, sie als Lebensraum zu nutzen - anders, als sie es während der Zeit des Kommunismus gewöhnt waren. Da war Prag vor allem eine Stadt zum Arbeiten und Schlafen. In jeder freien Minute, vor allem am Wochenende, zog es die Bewohner raus auf ihre Datsche auf dem Land.
Heute, erklärt Ourednicek, ändere sich das: Die Prager hätten schönere Wohnungen, sie wollten das Leben nicht nur an ihren freien Tagen genießen. Davon zeugen auch die vielen Restaurants und Cafes, die ihre Tische auf die Straße stellen und Prag zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten zu einer Stadt der Flaneure machen.
Weniger Autos, mehr Fußgänger
Auch der Verkehrsexperte Marek Belor beschäftigt sich mit dem Wandel der Stadt. "Das grundlegende Dilemma von Prag ist, dass die Kopfsteinpflastergassen einfach zu schmal sind für den Ansturm von Autos", sagt er. Tausende Pendler quälen sich Tag für Tag mit dem eigenen Fahrzeug ins Zentrum, die Staus bremsen auch Busse und Straßenbahnen aus. Noch in diesem Jahr soll ein milliardenteurer Tunnel eröffnet werden, der den Verkehr auf vier Spuren unter dem Zentrum hindurchführt: das Paradeprojekt einer früheren Stadtverwaltung. Die heutige Prager Koalition verfolgt eine andere Linie: Die Prager sollen ihre Autos am besten stehenlassen. Sie hat die Tarife für den öffentlichen Nahverkehr deutlich verbilligt, eine Jahreskarte kostet 130 Euro.
"Die Straßen werden zu einem Ort, an dem sich das Leben in der Stadt abspielt", urteilt Marek Zderadicka. Der Ingenieur arbeitet bei einer städtischen Gesellschaft, die sich um die Stadtplanung kümmert. "Man ist auf der Suche nach einer urbanen Lebensqualität", sagt er. "Das ist eine Tendenz, die überall in Europa zu beobachten ist. In 20, 30 Jahren wird die Mehrheit der Menschen in Städten wohnen. Also brauchen wir gute Lebensbedingungen in der Stadt."
Mehr Platz für Fußgänger, weniger Durchgangsverkehr, mehr Cafés und kleine Läden - das seien die Kriterien, nach denen jetzt alle Großprojekte in Prag geplant würden. Und Forscher Martin Ourednicek sagt: "Prag hat seine Aufholjagd zu westlichen Städten wie Wien oder München gestartet."
Unten an der Moldau-Promenade ist inzwischen die Nacht angebrochen. Die Musik spielt, das Bier fließt und Martin Kontra, der Bar-Pionier, lehnt sich zufrieden zurück: "Wir haben noch so viele Ideen, da wollen wir dranbleiben." Die Prager genießen ihre Stadt - jeden Abend aufs Neue.