Camerons Reformrede
24. Januar 2013 David Cameron hat die Flucht nach vorn angetreten. Er sieht sich nicht als "britischen Isolationisten", will "niemals die Zugbrücke hochziehen". Stattdessen präsentiert er sich als Vorkämpfer für eine bessere Europäische Union, und zwar nicht nur für sein Land, sondern für alle. Die EU sei zu starr, zu wenig wettbewerbsfähig, sie reguliere zuviel, sie habe sich von den Bürgern entfernt. Durch die Integrationsmaßnahmen zur Euro-Rettung werde sich die EU "vielleicht bis zur Unkenntlichkeit verändern".
Das ist nicht die Union, die Cameron will. Er setzt vor allem auf den Binnenmarkt. Manche politische Zuständigkeiten will er von Brüssel zurückholen, wo nötig, auch mit Vertragsänderungen. Jedes Mitglied solle sein eigenes Maß an europäischer Integration festlegen. Und erst nach diesem Diskussions- und Verhandlungsprozess und wenn seine Konservative Partei die nächste Wahl gewinnt, will der Premier das britische Volk in einem Referendum vor die Wahl stellen: "Eine Wahl zwischen einem Austritt und der Mitgliedschaft in einer neuen Ordnung, bei der Großbritannien die Regeln des Binnenmarktes gestaltet und respektiert, aber in der es auch durch faire Absicherungen geschützt ist vor kleinlicher Regulierung, die Europas Wettbewerbsfähigkeit schadet." Er selbst, stellte Cameron klar, wünsche sich sein Land IN der EU, nicht außerhalb, allerdings in einer reformierten EU.
Kommission freut sich über "Debattenbeitrag"
Obwohl der Premier vor allem die Europäische Kommission angriff und als verschwenderisch, regulierungswütig und abgehoben brandmarkte, reagierte diese typisch zurückhaltend auf die Tiraden. Die Kommission, so deren Sprecherin Pia Ahrenkilde, begrüße die Rede als "wichtigen Beitrag zu demokratischen Debatte in Großbritannien über Europa". Sie begrüße es außerdem, dass Cameron sein Land in der EU halten wolle, und fügte hinzu: "Es liegt sehr im europäischen Interesse und im Interesse des Vereinigten Königreichs, dass Großbritannien ein aktives Mitglied im Herzen der EU bleibt".
Rosinenpickerei geht nicht
Diese Zurückhaltung gab es nicht im Europaparlament, dem Cameron eine echte demokratische Legitimation abgesprochen hatte. Parlamentspräsident Martin Schultz twitterte: "Wir brauchen Großbritannien als vollwertiges Mitglied und nicht versteckt im Hafen von Dover." Und bereits vorher hatte Schulz gesagt, "dass es keine realistische Möglichkeit gibt, die EU-Verträge neu zu verhandeln, weil es nicht sinnvoll ist und es dafür keine Mehrheit gibt." Die Vorsitzenden der deutschen CDU/CSU-Gruppe, Herbert Reul und Markus Ferber, schreiben in einer gemeinsamen Entgegnung: "Cameron fordert de facto einen Binnenmarkt à la carte, sagt aber gleichzeitig, Europa müsse wettbewerbsfähiger werden. Das geht nicht zusammen."
Guy Verhofstadt von den Liberalen wirft Cameron vor, "mit dem Feuer zu spielen" und seine europäischen Partner erpressen zu wollen. Es stehe "außer Diskussion, dass ein einzelner Mitgliedsstaat aus vereinbarten Politikbereichen aussteigt." Hannes Swoboda, Fraktionsvorsitzender der Sozialisten, hatte bereits vergangene Woche gesagt: "'Ich will nicht raus, ich will drin sein, aber nur unter Bedingungen und Änderungen hier und Änderungen da, das ist eine Politik, die die Stärke der EU zerstört." Dagegen meint Martin Callanan, Fraktionschef der britischen Konservativen im Europaparlament, sein Land habe "viele Verbündete in ganz Europa, die wollen, dass die EU eine wettbewerbsfähigere und flexiblere Organisation wird und die Verschiedenartigkeit des Kontinents respektiert."
Merkel erstaunlich entgegenkommend
Zum Teil sehr unterschiedliche Reaktionen kamen aus den beiden Ländern, die gerade das 50. Jubiläum ihrer besonderen Partnerschaft gefeiert haben, aus Deutschland und Frankreich. Bundeskanzlerin Angela Merkel schien Cameron ein Stück weit entgegenzukommen, als sie in Berlin sagte: "Europa bedeutet auch immer, dass man faire Kompromisse finden muss. In diesem Rahmen sind wir natürlich bereit, auch über britische Wünsche zu sprechen." Dabei müsse man aber auch die Wünsche anderer Länder berücksichtigen.
Dagegen reagierte der französische Außenminister Laurent Fabius in einem Radiointerview sarkastisch: Europa sei wie ein Fußballverein. "Man tritt diesem Club bei, aber wenn man einmal Mitglied ist, kann man nicht sagen: 'Ich spiele aber jetzt Rugby.'" Der irische Ministerpräsident Enda Kenny, dessen Land derzeit den EU-Ratsvorsitz hat, selbst ein erklärter enger Verbündete Camerons, hatte vergangene Woche in Brüssel gewarnt: "Ein britischer EU-Austritt wäre meiner Meinung nach eine Katastrophe."
Freiwilligkeit statt Zwang
Da wichtige Teile der Rede bereits lange vorher durchgesickert waren, hatten mehrere Politiker auch bereits vorher reagiert. Cameron konnte also schon in seiner Rede auf Kritik eingehen, vor allem auf den Vorwurf, dass es die EU zerstören würde, würde sich jedes Land das Passende bei der europäischen Zusammenarbeit herauspicken. Cameron sieht es genau umgekehrt: "Ich meine, dass dies keineswegs die EU zerstört, sondern ihre Mitglieder sogar stärker zusammenbindet. Denn eine flexible, freiwillige Zusammenarbeit ist ein viel stärkerer Kitt als Zwang aus der Zentrale."
Geist aus der Flasche?
Auch wenn Cameron hofft, ein Referendum werde sein Land in der EU halten, weil sie sich bis dahin in die von ihm gewünschte Richtung bewegt haben werde, denken manche schon über die Folgen eines möglichen britischen Austritts nach. Der Sozialdemokrat Hannes Swoboda meint gelassen, die EU würde dadurch "nicht sonderlich geschwächt". Geschwächt würden allerdings die britischen Bürger, deren Interessen eben auch im Europaparlament vertreten würden. "Ihnen würden soziale Mindeststandards und einige bürgerliche Freiheiten vorenthalten oder das Recht, den Europäischen Gerichtshof anzurufen."
Dagegen freut sich schon heute Nigel Farage. Der Vorsitzende der UK Independence Party im Europaparlament glaubt: "Diese Debatte wird nicht aufhören. Und ich hoffe, dass viele andere Länder unserem Beispiel folgen und ihre demokratischen und Freiheitsrechte zurückfordern werden." Farage geht allerdings noch weiter. Er will Großbritannien im Gegensatz zu Cameron in jedem Fall aus der EU herausführen. Und viele Beobachter glauben, dass Cameron in eine Falle geraten ist: Um den Euroskeptikern in den eigenen Reihen und von Leuten wie Farage den Wind aus den Segeln zu nehmen, habe er den Geist aus der Flasche gelassen und bekomme ihn nun nicht wieder in die Flasche hinein.