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Politik

Proteste gegen Erdogan: Angst vorm Volk?

19. April 2017

Tausende demonstrieren in der Türkei gegen das Ergebnis des Verfassungsreferendums. So viel Widerstand ist Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht mehr gewohnt. Aus Istanbul berichtet Julia Hahn.

Proteste gegen das Referendum in Istanbul (Foto: picture alliance/dpa/AP/L. Pitarakis)
Bild: picture alliance/dpa/AP/L. Pitarakis

"Das Nein hat gewonnen" oder "Istanbul gehört uns", rufen die Demonstranten. Wieder sind sie auf der Straße, um gegen das Ergebnis des Verfassungsreferendums vom Sonntag zu protestieren. Der Treffpunkt: Beşiktaş, ein Stadtteil auf der europäischen Seite der Millionenmetropole, nicht weit vom Taksim-Platz entfernt. Vor der großen Adler-Statue - dem Wahrzeichen des Viertels - geht es los. Frauen und Männer sind gekommen, Studenten und Rentner, Kurden, Sozialdemokraten, Kommunisten. Sie haben - wie die meisten Istanbuler Wähler - am 16. April Nein gesagt: Nein zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, Nein zu einem Ein-Mann-Präsidialsystem, Nein zu Staatschef Erdogan.

Die Hoffnung der Nein-Sager

"Wir wissen jetzt, dass wir viele sind und das macht uns Mut", sagt Soziologie-Studentin Cansu. Von der Kundgebung habe sie auf Twitter erfahren. "Zu Hause halte ich es einfach nicht mehr aus, ich muss dabei sein", sagt sie. Einige hundert Meter entfernt parkt ein Wasserwerfer, patrouillieren Polizisten. Noch greifen sie nicht ein.

Seit Tagen protestieren Menschen gegen den Ausgang des ReferendumsBild: picture alliance/dpa/AP/L. Pitarakis

Auch in anderen Istanbuler Stadtteilen gehen seit Tagen viele Menschen auf die Straße, ebenso in Städten wie Ankara, Izmir, Adana. 48,6 Prozent der Wähler haben laut vorläufigem Endergebnis im Verfassungsreferendum mit "Hayir" - also Nein - gestimmt. 51,4 Prozent sagten "Evet" - Ja. Es ist nicht die Mehrheit, auf die Präsident Erdogan gehofft hatte. Aber sie reicht ihm, um jetzt das politische System der Türkei umzukrempeln. Künftig könnte er per Dekret regieren, das Parlament auflösen oder Minister entlassen.

Einige der Demonstranten in Beşiktaş haben Töpfe und Löffel dabei, mit denen sie Krach machen. Krach, der an die Zeit der Gezi-Proteste 2013 erinnert. Mit klapperndem Geschirr brachten auch damals viele Istanbuler ihre Wut zum Ausdruck, zehntausende Menschen gingen in den türkischen Großstädten gegen die als autoritär empfundene Politik der islamisch-konservativen Regierung auf die Straße. Die Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen.

Betrugsvorwürfe bleiben

"Wäre beim Referendum nicht manipuliert worden, hätte das Nein-Lager gewonnen", sagt die 23-Jährige Cansu. Wie die anderen Demonstranten ist sie überzeugt, dass bei der Wahl betrogen wurde. Sie kritisieren vor allem die Entscheidung der türkischen Wahlkommission, auch ungestempelte und nicht verifizierte Wahlzettel bei dem Votum am Sonntag zu akzeptieren. Die Oppositionsparteien CHP und HDP hatten daraufhin eine Annullierung der Abstimmung gefordert - die Wahlkommission hat entsprechende Anträge inzwischen abgelehnt. Ministerpräsident Yildirim ermahnte die Opposition erneut, das Wahlergebnis anzuerkennen. Aufrufe zu Protesten seien "inakzeptabel", so Yildirim.

Den Glauben an die politische Opposition haben viele Demonstranten in Beşiktaş längst verloren. "Die Opposition ist einfach zu schwach", sagt Ingenieurin Dilek. Die 30-Jährige und  ihre Freunde laufen am Ende des Demonstrationszuges mit. "Deshalb nehmen wir die Sache jetzt selbst in die Hand. Wir vertrauen der Zivilgesellschaft mehr als den Politikern."

Neue Gezi-Proteste?

Türkischen Medienberichten zufolge wurden in Istanbul bislang 38 Menschen in Zusammenhang mit den Protesten festgenommen. Ihnen wird geworfen, "das Volk gegen das Ja-Votum aufzuwiegeln". Einschüchtern lassen wollen sich die Demonstranten in Beşiktaş davon nicht. "Wir sind mehr als 50 Prozent - Präsident Erdogan weiß das und er hat Angst vor uns. Er hat Angst vor einem zweiten Gezi", sagt der 21-jährige Alp, der bei den Massenprotesten vor vier Jahren dabei war.

Für ein zweites Gezi seien noch nicht genügend Menschen auf der Straße, sagt Studentin Cansu. "Ich weiß nicht, was kommen wird", sagt sie. "Gerade kann ich mir absolut nicht vorstellen, wie unsere Zukunft aussehen könnte."

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