1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Proteste in Algerien noch nicht am Ende"

25. Februar 2019

Derzeit protestieren viele Algerier gegen eine fünfte Amtszeit von Präsident Abdelaziz Bouteflika. Der Politologe Rachid Ouaissa erläutert die Motive der Demonstranten. Die reichen weit über den aktuellen Anlass hinaus.

Algerien | Tausende protestieren gegen fünfte Amtszeit von Präsident Bouteflika
Bild: picture-alliance/dpa/AP/A. Belghoul

Herr Ouaissa, derzeit protestieren vor allem junge Algerier gegen eine erneute Kandidatur von Präsident Bouteflika, der als schwer krank gilt und sich selten in der Öffentlichkeit zeigt. Was treibt die Menschen auf die Straße?

Sie protestieren gegen einen politischen Prozess, den sie als unverschämt empfinden. Wir haben einen Präsident, der seit fünf Jahren nicht gesehen wurde, der nicht direkt zum Volk gesprochen hat. Dazu empören sie sich über mafiöse Strukturen um ihn herum, eine Mischung zwischen Familie, der Regierungspartei FLN und den Parteien, die das Regime stützen. Hinzu kommen Personen, die die Hände auf die Importe Algeriens - sprich, die Devisen - gelegt haben. Die derzeitige Entwicklung haben sie nicht erwartet. Sie haben die Lage falsch eingeschätzt. Insgesamt hat die Bevölkerung hat die Nase voll von einem Präsidenten, der nicht anwesend ist und die Errungenschaften tatsächlich nicht so groß sind wie das Regime sie darstellt.

Wer sind die Personen im Umfeld der Macht? Aus welchen Kreisen stammen sie?

Bis zum Bürgerkrieg der 1990er Jahre rekrutierte sich das Regierungspersonal vor allem aus dem Militärgeheimdienst und der herrschenden Partei, der FLN. Danach hat sich das Regime insofern modernisiert, als es auch anderen Kreisen den Zutritt gewährte. Auf diese Weise hat sich eine Klasse gebildet, die sich vor allem über die Einkünfte aus dem Öl- und Gasexport finanziert. Diese Leute kommen überwiegend aus dem Westen des Landes, aus der Umgebung um Oran, von wo auch Bouteflika stammt. Ungefähr 90 Prozent der Minister kommen von dort. Zudem gibt es eine Clique so genannter "Importbarone". Sie kontrollieren die Importe und vergeben die entsprechenden Lizenzen. Das sind Personen mit rein geschäftlichen Interessen. Und dann gibt es die - wie man in Algerien sagt - revolutionären "Familien", sprich, die Gewerkschaften, die Partei, die alten Strukturen. In allen diesen heterogenen Gruppe spielen die Geheimdienste und das Militär weiterhin eine Rolle.

Eine fünfte Amtszeit? Nein danke! Proteste in Algier, 22. Februar 2019Bild: Getty Images/R. Kramdi

Die genannten Kreise setzten nun ein weiteres Mal auf Bouteflika. Warum?

Sie nutzen sein Image und die nationale Geschichte aus. Bouteflika hat noch am Algerienkrieg teilgenommen. Er ist eine wichtige Figur: Er war der jüngste Außenminister Algeriens, und international genießt er eine gewisse Legitimität. Sein hohes Alter erleichtert den Gruppen, die ihn umgeben, ihre Interessen durchzusetzen. Das führt dazu, dass die Reformen letztlich nicht umgesetzt werden, stattdessen dominiert der Status quo. Wäre Bouteflika dazu in der Lage, würde er sich einer solchen Politik womöglich verweigern.

Algerien hat enorme Bodenschätze, etwa die Gasvorkommen. Warum gelingt es nicht, das Land zu gewissem Wohlstand zu führen?

Racihod Ouaissa, Universität MarburgBild: Rachid Ouaissa

Das Land lebt gewissermaßen unter einem modernen Autoritarismus. Es herrscht eine Mischung autoritärer und einiger demokratischer Elemente. Ich würde nicht sagen, dass in Algerien eine Diktatur herrscht - diese Zeiten sind vorbei. Das Land lebt unter einer starren Bürokratie, die mental noch den 1970er Jahren verhaftet ist. Dazu gibt es eine Art Kumpel-Kapitalismus - also das, was auf Englisch "crony capitalism" heißt. Deren Mitglieder gründen ihre Macht auf das Prinzip, die Bevölkerung abhängig vom Staat zu halten. Sie wollen das Land nicht industrialisieren, um auf diese Weise die Entstehung einer Arbeiterklasse zu verhindern, allgemeiner gesagt einer Klasse, die unabhängig von Renten aus dem Öl- und Gasexport wäre. Das hat verheerende Folgen: So wurden die von Bouteflika angestoßenen Großprojekte wie etwa die Ost-West Autobahn von Chinesen gebaut. Diese Jobs hätten auch ungelernte Algerier machen können. Aber das wollen Teile der Regierung nicht, weil auf diese Weise vom Staat unabhängige gesellschaftliche Gruppen entstehen könnten. Stattdessen halten sie die Bevölkerung lieber in Abhängigkeit vom Staat.

Die EU und die USA verhalten sich ja bislang recht still angesichts der Entwicklung in Algerien. Wie sehen Sie das?

Dieses Verhalten ist in höchstem Maße heuchlerisch. Es gibt seitens der westlichen Staaten natürlich Sorgen: Algerien spielt militärisch eine Rolle. Das Land hat eine der größten Armeen der gesamten Region und ist insofern ein stabilisierender Faktor. Nach den Erfahrungen der 90er Jahre gilt es auch als wichtiger Akteur im Kampf gegen den Terrorismus. Auch mit Blick auf Mali und vor allem Libyen ist Algerien eine wichtige Ordnungsmacht. Ein destabilisiertes Algerien mit 40 Millionen Einwohnern wäre eine Katastrophe. Man hat bereits erlebt, dass der algerische Terrorismus bis nach Paris kommen kann. Insofern sind diese Sorgen begründet.
Dennoch: Auf gewisse Weise hat Angela Merkel die algerische Bevölkerung während ihres Besuchs im September vergangenen Jahres getäuscht, zumindest aber enttäuscht. Es wurde der Eindruck erweckt, als hätte sie mit Bouteflika diskutiert. So haben es am folgenden Tag auch die algerischen Zeitungen dargestellt. Das hat große Hoffnungen geweckt. Ich halte es allerdings für schwer vorstellbar, dass Kanzlerin Merkel mit einem schwer angeschlagenen Bouteflika eine ernsthafte Diskussion geführt haben sollte. Die Algerier dachten, es ginge etwa um Menschenrechte. Doch davon war später nie mehr die Rede. Insofern waren die Algerier in den folgenden Wochen ernüchtert. Nun demonstrieren sie. Und diese Demonstrationen sind noch lange nicht am Ende.

Kaum noch regierungsfähig: Präsident Abd al-Aziz BouteflikaBild: Reuters/R. Boudina

Das Interview führte Kersten Knipp.

Rachid Ouaissa lehrt Politikwissenschaften an der Universität Marburg. Dort leitet er das Fachgebiet "Politik des Nahen und Mittleren Ostens" am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS).

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen