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Politik

"Es geht um 30 Jahre Machtmissbrauch"

29. Oktober 2019

Die Proteste in Chile gehen weiter, obwohl Präsident Piñera das Kabinett ausgewechselt und Sozialreformen angekündigt hat. Nur die eine Forderung, die alle Protestierenden eint, lehnt er ab: seinen eigenen Rücktritt.

Chile Proteste in Santiago
Bild: Reuters/I. Alvarado

"Fuera Piñera!” ("Piñera raus!"), rufen die Menschen auf den Straßen in Santiago de Chile, die sich mit Kochtöpfen und Trommeln dem Regierungspalast La Moneda nähern. Ihre Forderung ist klar: Sie wollen den Rücktritt des Präsidenten. Eine Rauchwolke liegt über der Stadt, es riecht nach verbranntem Plastik. In der gesamten Stadt brennen Barrikaden, auch ein Fast-Food-Lokal und mehrere U-Bahn-Stationen stehen in Brand. Mehr als eine Woche nach dem Ausbruch der Massenproteste gegen die soziale Ungleichheit im Land spürt man erneut die Wut der Menschen auf der Straße.

"Wir haben die Nase voll vom Machtmissbrauch durch die Regierung. Ein Prozent unserer Gesellschaft hat das meiste Geld und damit die Macht", sagt die 30-jährige Kunstlehrerin Ariela Contreras. "Wir können nicht zur Normalität zurückkehren, wir haben noch nichts erreicht", steht auf dem Schild, das sie vor sich hält. "Die Reformen, die die Regierung vorschlägt, sind oberflächlich und lösen nicht die tieferliegenden Probleme. Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch."

Ariela Contreras protestiert nicht nur gegen höhere U-Bahn-Preise, sondern gegen "30 Jahre Machtmissbrauch"Bild: DW/S. Boddenberg

Von der U-Bahn auf die Straße

Die Demonstrationen in Chile wurden vor mehr als zwei Wochen ausgelöst, als der Fahrpreis der U-Bahn um 30 Pesos erhöht wurde. Schüler protestierten dagegen durch sogenannte "evasiones", Aktionen kollektiven Schwarzfahrens. Anschließend schwappten die Proteste von der U-Bahn auf die Straße über und verwandelten sich in einen Aufstand gegen die soziale Ungleichheit im Land. Sie richten sich auch gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik nicht nur der aktuellen Regierung, sondern aller Regierungen, die nach dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) im Amt waren. Während der Diktatur wurden die Grundsteine für das neoliberale Wirtschaftsmodell in Chile gelegt. Die Verfassung aus der Diktatur ist bis heute gültig. Das Bildungs-, Renten- und Gesundheitssystem sowie die Strom- und Wasserversorgung sind zum großen Teil privatisiert, die Situation in den öffentlichen Einrichtungen hingegen ist oft prekär.

Der 31-jährige Ricardo Cáceres ist Chirurg und arbeitet in einem öffentlichen Krankenhaus in Chiles Hauptstadt Santiago. Auch er protestiert auf der Straße. "In den öffentlichen Krankenhäusern in Chile sind Medikamente knapp, Operationen werden abgesagt, weil es nicht genügend finanzielle Mittel gibt. Geld, das eigentlich in das öffentliche Gesundheitssystem investiert werden sollte, fließt in den privaten Sektor", sagt er. Häufig gibt es nicht genügend Betten in den öffentlichen Krankenhäusern, weshalb viele Patienten auf Stühlen sitzen müssen. "Das dringendste Problem ist die Kluft zwischen Arm und Reich. Es gibt so viel Ungerechtigkeit in Chile, die Situation musste irgendwann explodieren", sagt Cáceres.

Arzt Ricardo Caceres protestiert auch gegen die desolaten Zustände in Chiles öffentlichen Krankenhäusern. Auf seinem Schild steht: "Auf einem Stuhl behandelt zu werden ist Gewalt."Bild: DW/S. Boddenberg

Ausufernde Polizeigewalt

Die Proteste haben sich auf das ganze Land ausgebreitet. Präsident Sebastián Piñera verhängte den Ausnahmezustand und Ausgangssperre. Etwa 10.000 Soldaten mit Panzerwagen schickte er auf die Straße. Derartige Maßnahmen hatte seit Ende der Militärdiktatur keine Regierung ergriffen. Mittlerweile wurde der Ausnahmezustand zwar aufgehoben, doch die Polizei geht trotzdem gewalttätig gegen die Demonstrierenden vor. Seit Ausbruch der Proteste gab es schon 20 Tote, über 1.000 Verletzte und mehr als 3.500 Verhaftete. "Piñera hat das Feuer mit Benzin gelöscht. Das wird ihm niemand verzeihen", meint Gianina Araya, die ebenfalls in Chiles Hauptstadt Santiago protestiert. "Es wurden schon viele Menschen getötet und gefoltert. Es macht mich wütend, dass der Regierung das egal ist", sagt sie.

Das Nationale Institut für Menschenrechte hat fast 100 Fälle von Folter und sexuellem Missbrauch registriert. Für einen Aufschrei sorgte der Fall eines 23-Jährigen, der nach seiner Verhaftung von Polizisten ausgezogen, verprügelt und mit einem Schlagstock sexuell missbraucht wurde. An den Verband Feministischer Anwältinnen ABOFEM haben sich mehr als 15 Frauen gewendet, die von Polizisten oder Soldaten sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden. "Es handelt sich um erwachsene und minderjährige Frauen, die während der Proteste oder nach der Ausgangssperre festgenommen wurden. Sie wurden entblößt, mit Waffen missbraucht und bedroht, einige wurden sogar vergewaltigt", sagt die Anwältin Natalia Bravo. "Wir hätten nie gedacht, dass wir in Zeiten der Demokratie solche Fälle registrieren würden. Das Schlimme ist, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer von Mädchen und Frauen gibt, die sich schämen und nicht trauen, Anzeige zu erstatten."

Gianina Araya ist wütend über das viel zu harte Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die DemonstrantenBild: DW/S. Boddenberg

Droht Piñera ein Amtsenthebungsverfahren?

Aufgrund der vielen Toten, Verletzten und Verhafteten während der Proteste werden immer mehr Stimmen lauter, die das Verhalten der chilenischen Regierung während des Ausnahmezustands als verfassungswidrig bezeichnen. Tomás Ramírez, Anwalt und Jurist der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile sagt: "Was wir in dieser Woche erlebt haben, ist eine systematische Verletzung der Rechte aller Personen, ob sie protestiert haben oder nicht. Die Maßnahmen der Regierung sind verfassungswidrig und widersprechen den internationalen Menschenrechtsabkommen." Abgeordnete der Opposition wollen ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Piñera wegen der Verletzung der Menschenrechte während des Ausnahmezustands veranlassen. Das Bündnis Frente Amplio und das Partido Comunista haben bereits 16 Unterschriften von Senatsabgeordneten gesammelt, wie sie am Montag verkündeten. Zehn Unterschriften sind ausreichend, um den Prozess zu beginnen, anschließend wären aber zwei Drittel der Stimmen des Senats notwendig. Dieser besteht derzeit aus insgesamt 43 Abgeordneten. In dieser Woche kommt außerdem ein Untersuchungsteam der Vereinten Nationen nach Chile, um die Lage der Menschenrechte zu überprüfen.

Der Widerstand gegen Chiles Präsidenten Piñera wächst auch im SenatBild: picture-alliance/AP Photo/E. Felix

Die Zustimmung für Piñera ist einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem zufolge auf 14 Prozent gesunken. Seit der Rückkehr zur Demokratie in Chile hat noch kein Präsident so niedrige Werte erhalten. Die Umfrage offenbart außerdem, dass 80 Prozent der Bevölkerung die Reformpläne der Regierung für unzureichend halten. "Piñera muss zurücktreten. Er muss für die Verbrechen bezahlen, die er begangen hat", findet Ariela Contreras. Für die gesamte Woche sind weitere Proteste in Chile geplant.

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