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PolitikAsien

Türkei: Studierende übernachten in Parks

Serkan Ocak | Daniel Derya Bellut
2. Oktober 2021

Unterkünfte in Studentenwohnheimen waren noch nie so knapp und so teuer. Die Bewegung "Wir finden keinen Unterschlupf" protestiert auf ungewöhnliche Weise: Hunderte Studierende übernachten in Parks.

Türkei Izmir | Protest von Studenten gegen die hohen Mieten und Mangel an Wohnräumen
In einem Park in Izmir protestieren Studierende gegen die hohen Mieten und den Mangel an WohnraumBild: ANKA

Zwei Jahre lang war der Präsenzunterricht für türkische Studierende aufgrund der Corona-Pandemie unterbrochen. Als die Universitäten ihre Türen wieder öffneten und die Studierenden in die Uni-Städte zurückkehrten, erlebten vielen von ihnen eine böse Überraschung: Die Mieten für Wohnheime sind kaum bezahlbar. Ein Grund dafür ist die Inflation und die mit ihr verbundenen Preisschwankungen, die sich auch auf den Wohnungsmarkt auswirken. Hinzu kommt, dass der türkische Staat offensichtlich nicht für ausreichend Kapazitäten in den studentischen Wohnheimen gesorgt hat: Für die rund achteinhalb Millionen Studierenden stehen nur knapp 700.000 Plätze in Wohnheimen zur Verfügung.

"Wir finden keinen Unterschlupf"

Die schwierige Lage bewegte zahlreiche Studenten dazu, ihren Unmut in die Öffentlichkeit zu tragen. Türkeiweit übernachten Studierende seit Tagen in öffentlichen Parks - mehr als 2240 angehende Akademiker soll es nach Angaben des Innenministeriums in die Grünanlagen verschlagen haben. Die Bewegung, die sich "Wir finden keinen Unterschlupf" (Barinamiyoruz) nennt, begann im Istanbuler Yoğurtçu-Park und fand schnell auch in anderen türkischen Städten Nachahmer. Mieterhöhungen von 70 bis 290 Prozent seien die Ursache dafür, dass sie jetzt wohnungslos sind, schreiben die Aktivisten in einem offenen Brief. "Weil wir keinen Ort haben, an dem wir menschenwürdig leben können, werden wir diese Möglichkeit selbst erschaffen", heißt es in dem Schreiben. 

"Wir schlafen nicht zu unserem Vergnügen auf der Straße. Wir erzählen die Geschichte von Millionen von Studenten", sagt Yunus Emre Karaca der DW. Karaca, der an der Marmara-Universität für den Studiengang Internationalen Beziehungen eingeschrieben ist, hat die Nacht mit Kommilitonen im Istanbuler Yoğurtçu-Park verbracht.

Auch Kemal Yılmaz, Student der Kommunikationswissenschaften, hat dort übernachtet. "Nach der Öffnung der Universitäten kam es zu einem Ansturm auf die Wohnheime. Die massive Nachfrage und die täglich steigenden Mieten haben zwangsläufig zu exorbitant hohen Preisen für die Unterkünfte geführt. Obwohl die Unis jetzt wieder aufmachen, können also viele nicht studieren", klagt der Student der Kocaeli-Universität.

Der Philosophie-Student Çayan Akbıyık von der Ege-Universität hat in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei, in einem Park übernachtet. "Wir haben in Izmir angefangen, weil wir gesehen haben, wie Freunde von uns in Istanbul demonstriert haben. Wir haben daraufhin im Aşık Veysel Park geschlafen." Der junge Student berichtet, dass die Polizei ihre Aktion unterbunden habe. "Die Polizei hat die Studenten hier aufgehalten, aber sie wurden nicht festgenommen."

Festnahmen in Istanbul und Izmir

In anderen Parks war die Polizei weniger nachsichtig: In Izmir kam es vor wenigen Tagen zu 41 Festnahmen, in Istanbul wurden 28 Studierende festgenommen.

Innenminister Soylu rückt die Demonstranten in die Nähe von TerroristenBild: Getty Images/AFP/A. Altan

Obwohl sie wieder freigelassen wurden, wuchs das öffentliche Interesse für die Protestbewegung und ihre unorthodoxen Protestmethoden gerade durch die Polizeieinsätze. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu rechtfertigt den Einsatz der Polizei damit, dass die Bewegung aus dem linksextremen Milieu hervorgegangen sei - es handele sich überwiegend nicht um Studierende. "Es wurde festgestellt, dass die Proteste überwiegend von linken Randgruppen durchgeführt wurden." Zudem seien Mitglieder terroristischer Vereinigungen wie die verbotene Kurdenmiliz PKK unter den Teilnehmern.

Erdogan zieht Parallele zu Gezi-Protesten

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ließ kein gutes Haar an der "schlafenden Studentenbewegung". Nach einer Kabinettssitzung diese Woche gab er zu verstehen, dass die steigenden Mietpreise damit zusammenhingen, dass nach zwei Jahren Unterbrechung nun die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt zwangsläufig sehr hoch sei. Wie sein Innenminister, unterstelle auch der Präsident den Protestierenden umstürzlerisches Gedankengut: "Bei manchen, die in Parks und Gärten auf den Bänken gelegen haben, kann ich eindeutig sagen, dass sie nichts mit Studieren zu tun haben, auch wenn sie sich als Studenten bezeichnen. Das ist nur eine andere Variante der Vorfälle im Gezi-Park", so der türkische Präsident. Gemeint sind die anhaltenden Proteste, die im Jahr 2013 im Gezi-Park begonnen haben und sich anschließend über das ganze Land ausgebreitet hatten. Auslöser war ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul. Die Proteste eskalierten, als die Polizei gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorging.

Anfang 2021 gerieten Studenten der Bogazici Universität mit der Polizei aneinanderBild: Jason Dean/dpa/ZUMA Wire/picture alliance

Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogan mit Studierenden aneinander gerät. In der jüngsten Vergangenheit bemühte sich die türkische Regierung, mehr Einfluss auf Hochschulen zu gewinnen. So ernannte Erdogan Anfang Januar Melih Bulu per Dekret zum Rektor der renommierten Istanbuler Bogazici Universität. Die Studierenden und Akademiker der Universität sehen die Ernennung als nicht legitim an, weil der Direktor AKP-Mitglied ist und somit als regierungsnah gilt. Bei den wochenlangen Protesten kam es zu zahlreichen Festnahmen. Auch bei diesem Vorfall rückte Erdogan die Protestierenden der Hochschule in die Nähe von "Terroristen".

Immerhin haben sich die Proteste letzten Endes ausgezahlt: Nach monatelangem Widerstand wurde Bulu im Juli per Dekret von Erdogan seines Amtes wieder enthoben. Dieses Erfolgserlebnis an der Bogazici Universität dürfte den Studierenden, die jetzt in türkischen Parks übernachten, nicht entgangen sein - und sie womöglich anspornen.