Proteste in Frankreich: Ein Gefühl der Ungerechtigkeit
10. September 2025
Die Protestbewegung "Bloquons tout" (Lasst uns alles blockieren) hatte auf oberster Regierungsebene offenbar für Unbehagen gesorgt: 80.000 Polizisten hatten die Behörden ins ganze Land entsandt, um die Demonstrierenden in Schach zu halten - eine beträchtliche Anzahl angesichts der vom Geheimdienst nur 100.000 erwarteten Teilnehmer der Protestaktion. Die wollten durch Streiks und Versammlungen Frankreich lahmlegen. Unter anderem, indem sie den Boulevard Périphérique – die Ringautobahn um Paris– blockierten. Doch das funktionierte nur kurz. Bereitschaftspolizisten räumten die Straße schnell von den Demonstrierenden. Das ganze Land paralysiert hat die Bewegung zudem letztendlich nicht. Dennoch drückt sie eine verbreitete Unzufriedenheit mit den Regierenden aus.
Die hat auch die 18-jährige Alix Gateaud Cointe dazu gebracht, am Mittwochmorgen mit ein paar hundert Menschen, viele davon junge Leute, vor dem Pariser Bahnhof Gare du Nord zu demonstrieren. "Ihre Yachten werden an unseren Streiks Schiffbruch erleiden" steht auf dem Schild, das die Pariser Politikstudentin hochhält. Neben dem Slogan klebt ein Foto des Milliardärs Bernard Arnault, Chef des Luxuskonzerns LVMH. "Wir brauchen einen Premierminister von links, der endlich Sozialreformen zugunsten der Armen umsetzt", sagt sie zu DW und fügt hinzu, dass die Ernennung von Sébastien Lecornu zum Premierminister das falsche Signal sende. "Er war bisher unser Verteidigungsminister – Präsident Emmanuel Macron will uns gefügig machen."
Macron hatte am Dienstag seinen Vertrauten Lecornu auserkoren, um eine neue Regierung zu bilden. Ex-Premierminister François Bayrou war zuvor an der Vertrauensfrage im Parlament gescheitert, mit der er Unterstützung für seinen Haushalt 2026 bekommen wollte, durch den 44 Milliarden Euro eingespart werden sollten. Für Alix Gateaud Cointe war der Sparplan inakzeptabel. "Der Premierminister wollte zwei Feiertage streichen und Gesundheitsausgaben kürzen, aber keine höheren Reichensteuern erheben", betont sie.
Bayrous Haushaltsankündigung scheint der Funke gewesen zu sein, der die "Bloquons Tout"-Bewegung zum Lodern brachte. Zwar hatte das Konto "Les essentiels" des Nachrichtendienstes Telegram, das man rechtsextremen Kreisen zuschreibt, schon im Mai zu einem Blockade-Tag am 10. September aufgerufen. Doch erst nach Bayrous Haushaltsrede Mitte Juli bildeten sich immer mehr Online-Konten, um den Aufruf weiterzutragen. Die Mitglieder dieser Gruppen stehen laut einer Umfrage der linksgerichteten Pariser Jean-Jaurès-Stiftung zu fast zwei Dritteln der Linksaußen-Partei Ungebeugtes Frankreich (LFI) nahe.
Parallelen zu den Gelbwesten
Antoine Bernard de Raymond erinnert die Protestaktion in gewisser Weise an die Gelbwesten, die ab November 2018 monatelang für mehr soziale Gerechtigkeit demonstrierten und Verkehrskreisel besetzten. "Auch damals hatten die Proteste wegen einer Ankündigung der Regierung angefangen – man wollte Sprit höher besteuern, was ärmere Bewohner von ländlichen Gegenden benachteiligt hätte", erinnert er sich gegenüber DW. Die Regierung kippte die geplante Besteuerung schließlich. "Jetzt wie damals haben die Demonstrierenden das Gefühl, dass der Staat ihnen nicht zuhört. Sie empfinden die aktuelle Politik als zutiefst ungerecht und denken, man verlange nur ihnen, nicht aber den Reichen Opfer ab." Dennoch gebe es auch Unterschiede: "Die Gelbwesten gehörten kaum Parteien und Gewerkschaften an. Diesmal scheinen mehr Hochschulabsolventen und politische Aktivisten dabei zu sein", meint Bernard de Raymond.
Unter den Ähnlichkeiten listet Stéphane Sirot, auf Protestbewegungen spezialisierter Historiker und Dozent an der Pariser Universität Sciences Po, auch auf, dass beide Initiativen sich autonom in Online-Foren organisiert haben. "Das ist eine Tendenz der vergangenen zwei Jahrzehnte", erklärt er gegenüber DW. "Traditionelle, von Gewerkschaften organisierte Demonstrationen hatten kaum Erfolge zu vermelden. Die Regierung reagiert nicht mehr darauf. Protestierende wählen daher unkonventionelle Wege, die auch radikaler sein können." Am Mittwoch kam es an mehreren Orten Frankreichs zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen der Polizei und Demonstrierenden. Für den Experten geht es dabei nicht nur um Bayrous Haushalt: "Es gibt ein tiefes Gefühl der Unzufriedenheit und des Ärgers."
Die nächsten Proteste sind schon angekündigt
Das bestätigen die Brüder Lancelot und Robin, die, wie viele Teilnehmer der Demonstration am Gare du Nord, ihren Nachnamen nicht nennen wollen. Der 25-jährige Lancelot ist extra aus Südfrankreich nach Paris gekommen, um mit seinem 20-jährigen Bruder an dem Protest teilzunehmen. "Ich möchte eine Politik, die unseren Planeten schützt", sagt der Landschaftsarchitekt, der ein Schild in der Hand hält, auf dem "Wir sind hier für die Bäume" steht. "Ich glaube nicht mehr an das politische System, weil man dem Volk nicht zuhört. Wir brauchen mehr direkte, lokale Demokratie", so Lancelot. Sein Bruder Robin, auf dessen Schild "Die Reichen besteuern" steht, nickt zustimmend. "Wir sind bereit, das Unsere zu tun, um die Dinge zu ändern. Aber die Parteien wollen keinen Kompromiss finden und arbeiten nur gegeneinander", meint der Geschichtsstudent gegenüber DW.
Die Forderung nach mehr direkter Demokratie erinnert Emmanuelle Reungoat, Politologin an der südfranzösischen Universität Montpellier, an die Protestbewegung "Nuit Debout" 2016. Mehrere Monate lang hatten Demonstranten damals unter anderem den Pariser Platz der Republik besetzt und in Gesprächskreisen über neue Regierungsformen diskutiert. "Auch ihnen ging es um mehr Bürgerbeteiligung", sagt Reungoat zu DW. Dennoch gebe es bisher kaum gemeinsame, konkrete Forderungen. So könnten sich die Proteste leichter verlaufen. "Außerdem hat unser demokratisches System kaum Mechanismen, durch die sich horizontale Bürgerbewegungen außerhalb traditioneller Organisationsformen wie Gewerkschaften Gehör verschaffen können. Wir werden sehen, ob diese Aktionen in etwas Konkretem münden", so Reungoat. Für den 18. September haben indes die Gewerkschaften einen nationalen Streik- und Demonstrationstag angekündigt.