Proteste in Georgien: Wird die Regierung nachgeben?
2. Dezember 2024Russland oder Europa - wohin soll's gehen? Diese Frage bringt zurzeit Zehntausende in Georgien auf die Straßen - wieder einmal. Diesmal protestieren die Menschen aber nicht nur in der Hauptstadt Tiflis, sondern überall im Land: von der zweitgrößten Metropole Batumi am Schwarzen Meer bis zur Großstadt Rustawi im Osten.
Motiviert von ihrer Präsidentin Salome Surabischwili treffen die Protestierenden vor allem in der Hauptstadt Tiflis auf massiven Widerstand. Mit Wasserwerfern vertreiben die Spezialkräfte sie Nacht für Nacht mit aller Gewalt vom zentralen Rustaweli-Prospekt, viele der Protestierenden wurden verletzt oder verhaftet. Und nicht nur das, unterstreicht die georgische Präsidentin im DW-Interview: Die Gewalt gegen Protestierende sei nur ein Teil der "systematischen Gewalt gegen das ganze georgische Volk, dessen Stimme gestohlen wurde."
Damit meint Surabischwiili die Parlamentswahl Ende Oktober. Damals hatte die Zentrale Wahlkommission nach der Auszählung der Wahlzettel der Regierungspartei "Georgischer Traum" eine absolute Mehrheit von 89 Parlamentssitzen zuerkannt. Die Opposition sprach vom Wahlbetrug und rief gemeinsam mit der Präsidentin zu Protesten auf.
Mehrere Tausend Menschen folgten dem Aufruf tagelang. Dann berief der "Georgische Traum" das Parlament ein und bestätigte eine neue Regierung im Amt. Die Hoffnung auf eine Neuauszählung der Wahlzettel oder gar eine Neuwahl schwand. Es kamen deutlich weniger Menschen zu Protesten auf dem Rustaweli-Prospekt. Es schien, als würde den Kritikern der Regierung die Kraft ausgehen.
Unerwartetes Wiederaufflammen der Proteste
Doch dann passierte etwas, was nicht einmal die von der DW befragten georgischen Politik-Experten mit rationalen Argumenten erklären können: Vergangenen Donnerstag kündigte die Regierungspartei an, Verhandlungen mit der Europäischen Union über Georgiens Beitritt bis Ende 2028 aussetzen zu wollen. Und das, obwohl die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich seit Jahren klar zur EU bekennt und die so genannte Euro-Integration, also der Weg in die Europäische Union, in der Georgischen Verfassung festgeschrieben ist.
Die nachgeschobenen Beteuerungen von Ministerpräsident Irakli Kobahidse, Georgien werde bis 2030 trotzdem der EU beitreten, nützten nichts. Die europabegeisterten Georgierinnen und Georgier strömten wieder massenweise auf die Straßen. Präsidentin Surabischwili erklärte, sie wolle ihr Amt nicht ihrem Nachfolger überlassen, wenn ihr Mandat am 14. Dezember ordnungsgemäß auslaufe, weil ihr Nachfolger, vorgeschlagen von der Surabischwilis Meinung nach illegitimen Regierung, ebenfalls illegitim sein werde.
Seitdem nehmen die Proteste wieder zu. Der Politikwissenschaftler Korneli Kakachia von der Universität Tiflis erklärt den "zivilen Ungehorsam" gegenüber der Deutschen Welle so: "Vor allem junge Leute fühlen, dass diese Regierungsentscheidung sie um ihre europäische Zukunft betrogen hat." Für seinen Kollegen Gela Wasadse sind die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei eine "Spiegelung der tiefen politischen Krise, in die der 'Georgische Traum' das Land bewusst getrieben hat".
Angst vor der "russischen Welt"
"Als Treiber der Proteste diente natürlich die Ankündigung des Ministerpräsidenten Kobahidse, Georgien wolle die EU-Beitrittsgespräche aussetzen. Der aktive Teil der Gesellschaft hat das absolut richtig als Verzicht auf die Euro-Integration verstanden", sagt Wasadse. Und dieser Verzicht bedeute wiederum automatisch ein "Hineingeraten in die russische Welt," also in den Einflussbereich Moskaus.
Die Regierung habe so gehandelt, weil sie sich entweder schlicht "einen Fehler leistete," glaubt Wasadse. Er vermutet ein unbedachtes Signal an die EU, sich nichts vorschreiben lassen zu wollen. Oder aber das Ganze sei Teil eines größeren Plans, der darin bestehe, "die Gesellschaft zu noch mehr Gewalt zu provozieren, um dann das politische Feld zu bereinigen und zivile Freiheiten abzuschaffen". Das nennt der Politikexperte "eine russische Welt."
Dabei wolle die Regierungspartei mit dieser "russischen Welt" auch Geld verdienen, vermutet Wasadse und spielt darauf an, dass der Gründer des "Georgischen Traums", der Milliardär Bidsina Iwanischwilli, sein Kapital in Russland gemacht hat. "Geld und der unbedingte Wille zum Machterhalt unter allen Umständen" trieben Iwanischwilis Anhänger zu solchen Schritten.
Für den Politologen Kakachia ist die Entscheidung der Regierungspartei schlicht unverständlich, aber der "Georgische Traum" sei dafür bekannt, solche unlogischen Entscheidungen zu treffen, "die mit niemandem abgesprochen sind und von einem einzigen Mann getroffen werden". Gemeint ist auch hier der Parteigründer Iwanischwili. Selbst manche Unterstützer des "Georgischen Traums" würden seine Entscheidung dieses Mal nicht teilen. Der einzige wirkliche Profiteur sei Russland, so Kakachia, weil die georgische Gesellschaft noch mehr polarisiert werde.
Wie geht es weiter?
Gela Wasadse nennt in diesem Zusammenhang drei Zukunftsszenarien: "Der unwahrscheinlichste Ausgang ist, dass der 'Georgische Traum' einen Rückzieher macht." Dann würde eintreten, was Präsidentin Surabischwili vorgeschlagen habe: Das alte Parlament und die alte Regierung kämen zurück und riefen Neuwahlen aus.
Das zweite Szenario nennt der Experte die Konterrevolution – "wenn die Regierung es schafft, die Proteste – leider nicht ohne Blutvergießen – niederzuschlagen und die politischen Parteien abzuschaffen". Das dritte Szenario sei die Revolution, "wenn der 'Georgische Traum' mit seiner illegitimen Regierung an der Macht bleibt, dann wird ein alternatives politisches Zentrum um die Präsidentin als einzige legitime Institution entstehen." Der Staat werde vorübergehend von Surabischwili an der Spitze einer Art technischen Übergangsregierung geführt. Sie werde Neuwahlen garantieren.
Korneli Kakachia schließt ebenfalls das so genannte "Venezuela-Szenario" nicht aus, in dem es zwei konkurrierende "Regierungen" gäbe. Der positivste Ausgang aber aber wäre, wenn das Verfassungsgericht auf Druck der Öffentlichkeit die Ergebnisse der Parlamentswahl vor einem Monat annulliere und Neuwahlen ausgerufen würden.