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Politik

Moskau: Justiz der härteren Gangart

Roman Goncharenko
7. August 2019

Mehrere oppositionelle Demonstranten müssen in Moskau mit einem Strafverfahren rechnen. Eine renommierte Zeitung warnt vor "politischem Terror". Besonders der Fall um einen einjährigen Jungen sorgt dabei für Aufsehen.

Festnahme eines Teilnehmers der Proteste in Moskau, 3. August
Bild: Reuters/T. Makeyeva

"Ein totaler Schock. Schrecklich. Eine Grausamkeit. Das sind Barbaren." Olga Prokasowa und ihr Ehemann Dmitri ringen sichtbar nach Worte,  als sie am Dienstagnachmittag mit Journalisten vor dem Gebäude des Ermittlungskomitees in Moskau sprechen. Der einjährige Sohn Artjom, um den es geht, sitzt bei Dmitri auf dem Arm und blickt ängstlich in die fremden Gesichter der Reporter. Das Ehepaar wurde gerade stundenlang vernommen. Die Staatsanwaltschaft will den jungen Eltern das Kind wegnehmen. Die Begründung: Sie hätten es während der oppositionellen Proteste am 27. Juli einer dritten Person übergeben und damit gefährdet. Die besagte "dritte Person" ist ein Cousin der Mutter. Er hat an der Demonstration teilgenommen und das Kind tatsächlich kurz getragen. Die Eltern sagen, sie hätten ihn zufällig bei einem Spaziergang getroffen. 

Diese Geschichte schlägt in Russland hohe Wellen, denn so etwas hat es noch nie gegeben. Ein Gerichtsverfahren soll folgen, doch ob es dazu kommt, ist unklar. Ein Anwalt der Familie sagte, es gehe um ein Strafverfahren wegen Kindesgefährdung und Vernachlässigung der Erziehungspflichten.

Olga Prokasowa und ihrem Ehemann Dmitri wird vorgeworfen, ihren einjährigen Sohn Artjom während der Proteste am 27. Juli gefährdet zu habenBild: DW/E. Barysheva

Tausende Festnahmen, Huderte Strafen

Es ist der bisher spektakulärste Fall im Zusammenhang mit Protesten wegen der anstehenden Kommunalwahl in Moskau. Auslöser für die seit Mittle Juli andauernden Proteste ist die für den 8. September geplante Wahl zum Moskauer Stadtparlament, zu der mehrere Dutzend unabhängige Kandidaten - darunter prominente Oppositionelle - nicht zugelassen wurden. Die Begründung: fehlerhafte Unterschriften der Bürger, eine notwendige Voraussetzung für Zulassung. Die Betroffenen bestreiten das.

Bei zwei nicht genehmigten Protestaktionen, am 27. Juli und 3. August, ging die Polizei hart gegen Demonstranten vor. Die vorläufige Bilanz: Es wurden insgesamt mehr als 2000 Menschen festgehalten, mehr als 500 mit Strafen belegt, davon mehr als 100 mit kurzzeitigen Haftstrafen. Die meisten Oppositionspolitiker sind derzeit für Wochen eingesperrt und können so nicht an den anstehenden Demonstrationen - wie am kommenden Samstag (10. August) - teilnehmen. 

Bei Protestaktionen am 27. Juli und 3. August (auf dem Bild) in Moskau ging die Polizei hart gegen Demonstranten vorBild: picture-alliance/Zumapress/V. Kruchinin

Unterschriften gegen "politischen Terror"

Ein bereits laufendes Strafverfahren des Ermittlungskomitees steht ebenfalls heftig in der Kritik. Es geht um Artikel 212 des russischen Strafkodex - darin geht es um Massenunruhen. Bisher wird insgesamt gegen neun Menschen nach diesem Artikel ermittelt, doch ihre Zahl dürfte wachsen. Für die Teilnahme an Massenunruhen sind in Russland Haftstrafen von bis zu acht Jahren vorgesehen.

Einer der Angeklagten ist der 21-jährige Politikstudent und Videoblogger Jegor Schukow. Auch er wollte bei den Wahlen im September kandidieren, zog aber seine Bewerbung zurück und unterstützte einen oppositionellen Politiker. Die Ermittler werfen Schukow nun vor, die Demonstranten angeführt zu haben. Als Beweis dafür wird in Medienberichten ein Video gezeigt, in dem Schukow umringt von Demonstranten, mit seinem Arm gestikuliert.   

Während der Moskauer Bürgermeister, Sergej Sobjanin, von "Massenunruhen, die im Voraus geplant und gut vorbereitet" gewesen seien spricht, warnt die renommierte Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" vor "politischem Terror". Am 27. Juli habe es weder Sachbeschädigung noch Brandstiftung gegeben - und auch keine Gewalt. "Wir glauben, dass das Verfahren zu den Massenunruhen dafür genutzt wird, um das Volk Russlands einzuschüchtern und die Ausübung unseres Wahlrechts faktisch zu verbieten", heißt es in einem Appell, für den die "Nowaja Gaseta" auf der Webseite Change.org Unterschriften sammelt. Seit Sonntag haben rund 50.000 Menschen den Aufruf unterzeichnet.

Die Petition der "Nowaja Gaseta" auf der Webseite Change.org hat fast 50.000 Unterschriften gesammeltBild: change.org

Wachsende Bereitschaft zum politischen Protest 

"Das Ausmaß der Gewalt wächst Woche für Woche, doch noch ist sie begrenzt, wenn man das ganze Arsenal der Möglichkeiten bedenkt. Wasserwerfer und Tränengas kamen noch nicht zum Einsatz", sagt András Rácz, Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) in einem Gespräch mit der DW. Er geht davon aus, dass einige Demonstranten mit Haftstrafen rechnen müssen.

Rácz weist darauf hin, dass die jüngsten Proteste ein Ausdruck einer neuen Stimmung seien. Im Sommer 2018 stellten Experten des renommierten Moskauer Meinungsforschungsinstituts "Lewada-Zentrum" eine gestiegene Bereitschaft der Russen zu protestieren fest. Die hatte es lange nicht gegeben. Seither ist sie etwa gleich hoch geblieben. Bei Wirtschaftsthemen sind rund 27 Prozent der Russen bereit, auf die Straße zu gehen. Bei politischen Forderungen sind es 22 Prozent. Am Donnerstag präsentierte das "Lewada-Zentrum" seine neueste Umfrage zu den Protesten in Moskau. Fast jeder zehnte zeigt sich bereit, an Protesten teilzunehmen. Mit 37 Prozent liegt die Zahl der Protest-Befürworter um zehn Prozent höher die der Protest-Gegner.

Straßendemonstrationen gab es zuletzt in Russland immer wieder - etwa gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Doch der Sommer 2019 übertrifft alles. Zunächst erschütterte im Juni der Fall des investigativen Journalisten Iwan Golunow die russische Hauptstadt, dem die Polizei offenbar Drogen untergeschoben haben soll. Tausende nahmen an einer nicht genehmigten Protestaktion teil, es gab Hunderte Festnahmen. Der Staat gab überraschend nach: Vorwürfe wurden fallen gelassen und Golunow kam frei. Seit Mitte Juli rollt die zweite, längere und größere Protestwelle. Sie erinnert immer stärker an den Winter 2011/2012. So wie damals, steht auch heute der Ruf nach fairen Wahlen im Vordergrund. Polizei und Justiz reagieren mit zunehmender Härte.