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PolitikEuropa

Proteste in Prag: Wie prorussisch ist Tschechien?

Luboš Palata
6. Oktober 2022

Zwei große Demonstrationen in Prag stellen die klare Anti-Putin-Haltung der tschechischen Gesellschaft in Frage. Doch auch die zu späte Unterstützung der Regierung in der Energiekrise könnte eine Rolle gespielt haben.

Tschechien | Demonstration in Prag
Ein Demonstrant beklagt bei dem Protest in Prag am 3.09.2022 auf einem Plakat die hohen EnergiekostenBild: Michal Kamaryt/CTK/dpa/picture alliance

Der Wenzelsplatz in Prag ist seit Jahrzehnten der Ort, an dem tschechische Geschichte geschrieben wird. Hier verbrannte sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings der Student Jan Palach selbst, um ein Zeichen des Protests gegen die Machthaber zu setzen. Und als im November 1989 die Samtene Revolution das Land ergriff, waren es die antikommunistischen Demonstranten auf dem Wenzelsplatz, die wesentlich zum Sturz der Diktatur beitrugen. Gerade wegen der Symbolik sorgten die Fotos von zehntausenden Demonstranten auf dem Wenzelsplatz während der beiden prorussischen und regierungskritischen Proteste Anfang und Ende September für viel Aufsehen.

In Tschechien entfachten sie eine scharfe Debatte über die Politik der Mitte-Rechts-Regierung von Premierminister Petr Fiala. Besonders über den wenig erfolgreichen Kampf der Regierung gegen die Energiekrise. Aber auch über die Frage, ob Tschechien die Ukraine weiterhin mit Sanktionen gegen Russland, Waffen und der Aufnahme von mehreren hunderttausend ukrainischen Flüchtlingen unterstützen sollte.

Der Wenzelsplatz während des ersten Protests am 3.09.2022. Damals nahmen 70.000 Menschen an der Demonstration teilBild: Michal Kamaryt/CTK/dpa/picture alliance

Als am 28. September zur zweiten Demonstration "nur" 50.000 statt wie beim ersten Mal 70.000 Demonstranten auf den Wenzelsplatz kamen, zeigten sich Regierungspolitiker erleichtert. Genau wie nach den Kommunalwahlen ein paar Tage zuvor, bei denen die Regierungsparteien zwar einige Unterstützung verloren hatten, sich aber mit Prag und Brünn in den beiden größten Städten Tschechiens noch behaupten konnten. Doch hat sich die Situation tatsächlich entspannt? Wie heftig ist der politische Gegenwind, der der Regierung von Premierminister Fiala entgegenweht, tatsächlich? Und: Wer sind die Demonstranten auf dem Wenzelsplatz überhaupt?

Russlands fünfte Kolonne oder nur verängstigte Bürger?

Ministerpräsident Petr Fiala bezeichnete die erste Demonstration auf dem Wenzelsplatz als das Werk der prorussischen fünften Kolonne, also als Ansammlung tschechischer Akteure, die für Putin arbeiten: "Die Slogans und Interpretationen der Ereignisse deuten auf eine prorussische Haltung hin. Meiner Meinung nach entspricht dies nicht den Interessen der Tschechischen Republik und unserer Bürger", sagte der Premierminister Anfang September im tschechischen Fernsehen.

Tschechiens Ministerpräsident Petr FialaBild: Virginia Mayo/AP/picture alliance

Die Reden einiger Demonstranten während der Proteste scheinen diese Einschätzung zu stützen. "Die Tschechische Republik braucht eine tschechische Regierung. Die Regierung von Fiala mag ukrainisch sein, sie mag aus Brüssel kommen, aber sie ist definitiv nicht tschechisch", sagte Zuzana Majerova-Zahradnikova, Vorsitzende der rechtsextremen Partei Trikolora. "Die Regierung soll die antirussischen Sanktionen beenden, die tschechischen Geschäftsleuten schaden, und Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen. Das ist nicht unser Krieg." Majerova-Zahradnikovas Partei Trikolora war bis zum vergangenen Jahr im Parlament vertreten, ihr wichtigstes Anliegen ist der Austritt Tschechiens aus der Europäischen Union.

Viele Kommentatoren und Politikwissenschaftler widersprachen jedoch der Einschätzung von Premierminister Fiala zu den Demonstranten: "Das Teilnehmerfeld war gemischt. Es war sicherlich nicht so, wie die irreführende Interpretation von Fiala nahelegt, dass nur prorussische Extremisten da waren", sagte Politologe Petr Just dem Tschechischen Rundfunk. "Unter den Teilnehmern der Demonstration waren auch Menschen, die Angst haben, wie sie in Zukunft mit den steigenden Energiepreisen zurechtkommen werden."

Zuschauer begutachten im Sommer 2022 einen in Prag ausgestellten russischen PanzerBild: Libor Sojka/CTK/dpa/picture alliance

Politikwissenschaftlerin Petra Mlejnkova teilt diese Meinung. Die Proteste seien nicht nur durch die prorussische Stimmung in der tschechischen Gesellschaft motiviert gewesen, sondern vor allem durch die Angst vor den Auswirkungen der Energiekrise. "Die Angst in der Gesellschaft ist groß und die Organisatoren haben das für sich genutzt", sagte Mlejnkova der DW.

Wenige Tage nach der ersten Demonstration Anfang September 2022 deckelte die Regierung von Fiala die Energie- und Gaspreise für Haushalte, eine der zentralen Forderungen der Organisatoren des Protests. Zur zweiten Demonstration kamen, vielleicht auch deshalb, deutlich weniger Menschen. Dafür war die zweite Demonstration am 28. September deutlicher stärker prorussisch, antiwestlich und auch antidemokratisch ausgerichtet.

Veranstalter der Demonstrationen fordern den Sturz der Regierung

Die Organisatoren haben sich nach eigenen Worten nichts Geringeres zum Ziel gesetzt, als die Demokratie in Tschechien zu stürzen, Tschechiens aus deiner Westorientierung zu lösen und enge Beziehungen zu Putins Russland zu knüpfen. "Wenn es uns als Nation gelingt, die politische Richtung des Landes zu ändern, werden wir keine Waffen mehr in die Ukraine schicken", sagte Ladislav Vrabel, einer der Organisatoren der Demonstrationen.

Obwohl die großen Menschenmengen auf dem Wenzelsplatz viele überrascht haben, kommen die Demonstrationen und die ihnen zugrunde liegenden politischen Haltungen nicht aus heiterem Himmel. "Seit dreißig Jahren gibt es in Tschechien radikale bis extremistische Parteien, die bei Wahlen zusammengenommen 15 bis 20 Prozent der Stimmen erhalten", sagt Politikwissenschaftler Milos Gregor der DW.

Politikwissenschaftler Milos Gregor Bild: Masaryk-Universität

Einige tschechische Experten sind der Meinung, dass die Demonstrationen sogar noch größer hätten ausfallen können, wenn Tschechiens Präsident Milos Zeman nicht mit Russlands Angriff auf die Ukraine vom Anhänger zum Gegner Wladimir Putins geworden wäre. Heute unterstützt Zeman Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufnahme von Flüchtlingen. Dennoch wirkt Zemans Haltung nach. "Die Tatsache, dass der tschechische Präsident nicht mehr mitmacht, ist für die russische Desinformationsmaschine kein so großes Problem", sagt Politikwissenschaftlerin Mlejkova. An seiner statt würden nun andere Politiker russische Propaganda teilen - etwa Tschechiens ehemaliger Präsident Vaclav Klaus.

Noch extremer als die Extremisten

Die Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz werden von der Dach-Organisation "Tschechien an erster Stelle" organisiert. Ihre Mitglieder teilen Haltungen, die selbst für die rechtsextreme Parlamentspartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) des Nationalisten Tomio Okamura zu extrem und prorussisch waren. "Die SPD war zu Beginn des russischen Überfalls gegen den Krieg. Als sie von den Organisatoren der ersten Demonstration angesprochen wurden, lehnten ihre Politiker ab, weil sie der Meinung waren, dass eine offen prorussische Ausrichtung ihnen schaden würde", sagt Politikwissenschaftlerin Mlejnkova. "Aber die SPD hat nicht damit gerechnet, dass 70.000 Menschen kommen würden und sie ihre Absage bereuen würde. Zur zweiten Demonstration am 28. September kamen dann Vertreter der SPD auf den Wenzelsplatz."

Ein Demonstrant schwenkt während der Proteste am 28. September eine durchgestrichene Europa-FahneBild: Ondrej Deml/CTK/dpa/picture alliance

Politikwissenschaftler Gregor zufolge setzen sich die Organisatoren der Prager Anti-Regierungs-Demonstrationen vor allem aus einer Gruppe von hartgesottenen Corona-Schutzmaßnahmen-Gegnern während der Pandemie zusammen. "Das sind Leute, die zu Demonstrationen gegen Schutz-Maßnahmen aufgerufen und die Existenz von Covid in Frage gestellt haben", sagt Gregor. "Damals konnten sie sowohl wütende Unternehmer, die verzweifelt wegen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie waren, als auch Anhänger extremistischer Ansichten um sich scharen", erklärt er. Nun würden sie sich auf die Energiekrise stürzen: "Zugespitzt könnte man sagen, dass es sich um professionelle politische Querulanten handelt, die unter jedem Vorwand gegen jede Regierung protestieren. Sie wollen einen Systemwechsel."

 

Luboš Palata Europaredakteur der tschechischen Tageszeitung "Deník".
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