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Politik

Angst und Wut in Ostjerusalem

9. Mai 2021

Vier palästinensischen Familien droht die Zwangsräumung durch jüdische Siedlerorganisationen im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah. Die angekündigte Vertreibung hat Proteste und Zusammenstöße in Israel ausgelöst.

Proteste in Sheik Jarrah
Proteste in Scheich Dscharrah: Vier Familien könnten sehr bald ihr Haus verlierenBild: Tania Kraemer/DW

Das sonst eher ruhige Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem kommt nicht zur Ruhe, auch in der Nacht zu Sonntag kam es erneut zu Ausschreitungen zwischen Palästinensern und Israelis, Die Hilfsorganisation Roter Halbmond sprach von mehr als 80 Verletzten. 

Seit Tagen gibt es jeden Abend Mahnwachen und Proteste von jungen Palästinensern und Einwohnern. Das Oberste Gericht Israels soll entscheiden, ob vier der hier ansässigen Familien ihre Häuser räumen müssen - zugunsten von israelischen Siedlern. Jeden Abend kommen sie deshalb zum Fastenbrechen bei Sonnenuntergang zusammen. Dafür ist eine lange Tafel gleich vor dem Haus der Familie Al Kurd aufgebaut, eine von vier Familien, die vom Rausschmiss bedroht ist.

Gegenüber schauen jüdische Siedler zu. Nach einem Gerichtsentscheid vor rund zehn Jahren haben sie das Haus auf der anderen Seite übernommen und eine palästinensische Familie vor die Tür gesetzt. "Sheikh Jarrah hat einen systematischen Schub von der israelischen (Besatzungs-) Regierung gesehen, um unsere Häuser zu übernehmen. Und es gibt klare Absprachen zwischen den Siedler-Organisationen und dem israelischen Justizsystem, um uns aus unseren Häusern zu werfen," sagt Mohammed al Kurd, ein junger Palästinenser, dessen Familie eine baldige Räumung droht.

Palästinenser und jüdische Siedler stehen sich während des abendlichen Fastenbrechens gegenüberBild: Tania Kraemer/DW

An diesem Abend hat sich auch Itamar Ben-Gvir, rechtsextremer Knesset-Abgeordneter, zu einem Solidaritäts-Besuch bei den Siedlern angesagt. Gemeinsam mit anderen ultra-rechten Persönlichkeiten fordert er "Schutz" vor den Demonstranten und den arabischen Nachbarn ein. Über den Abend hinweg gibt es Provokationen, auf verbaler Ebene, und es fliegen Dosen, Steine und Plastikstühle zwischen Demonstranten und Siedlern.

Bewaffnete Spezialeinheiten der israelischen Polizei greifen ein und nehmen im Laufe des Abends mehrere palästinensische Aktivisten fest. "Ich habe keine Ängste mehr," sagt Murad Atia. Der 25-jährige Arabisch-Lehrer lebt gleich nebenan. "Das sind unsere Häuser. Wenn wir Angst zeigen, nehmen sie sich unser Zuhause. Wir könnten dann auch gleich einpacken und gehen."

Langwierige Gerichtsprozesse

Die gerichtlichen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den Anwohnern in Sheikh Jarrah und Siedlerorganisationen bestehen seit vielen Jahren. Bereits 2008 entschied ein Gericht zugunsten der Siedler und ließ mitten im palästinensischen Wohnviertel ein Haus räumen. Seitdem kamen israelische und palästinensische Aktivisten für kleinere Protestaktionen zusammen, um gegen weitere Siedlerübernahmen im Viertel zu protestieren. Nach Angaben von israelischen Menschenrechtsorganisationen sind momentan insgesamt acht Familien betroffen. Vier Familien könnten nach Ramadan ihr Zuhause verlieren, die anderen im August. In weiteren Fällen laufen die Verfahren noch.

Ein kleiner Weg führt vorbei an einer kleinen Siedlungsenklave zum Haus von Abdelfattah Iskafi. Auch seine Familie ist von einer Räumung bedroht. Der Familienvater macht sich Sorgen, wie es in den nächsten Tagen oder Wochen weitergehen wird. "Die Kinder sind sehr angespannt," sagt er. "Wohin sollen wir, oder die drei anderen Familien, denn gehen? Die Häuser hier in der Gegend kosten 3000 oder 5000 US-Dollar Miete - das können sich nur ausländische Anwohner leisten," sagt Iskafi, und meint damit die hohen Mieten im Diplomaten-Viertel. "Wir sind eher bescheidene Leute, wir sind nicht reich, wir sind Flüchtlinge und besitzen nur unsere Häuser." 

Ideologische Siedlergruppen

Das Viertel von Sheikh Jarrah zieht sich über einen Hügel im Norden von Ostjerusalem und liegt rund zehn Minuten zu Fuß von der Altstadt entfernt. Mehrere diplomatische Vertretungen und internationale Organisationen haben hier ihre Büros und Residenzen. Das Viertel beherbergt auch die mögliche Grabstelle von Simon, dem Gerechten, die vor allem von ultra-orthodoxen Juden besucht wird. Gemeinsam mit dem palästinensischen Stadtviertel Silwan im Süden außerhalb der Altstadt ist das Gebiet laut der israelischen NGO Ir Amim in den vergangenen Jahren "unter viel Druck von ideologischen Siedlern geraten".

Haus der Familie Al Kurd : Möglicherweise muss die Familie bald ausziehen Bild: Tania Kraemer/DW

Der Räumungskampf trifft den Nerv des israelisch-palästinensischen Konflikts. Wie viele andere Palästinenser auch mussten die Iskafis im israelisch-arabischen Krieg 1948 ihr Zuhause in Westjerusalem verlassen und nach Ostjerusalem fliehen, erzählt er. Andere flohen nach Gaza oder ins benachbarte Jordanien und blieben dort nach der Gründung von Israel 1948. In den 1950er-Jahren siedelte Jordanien, dass damals Ost-Jerusalem und das Westjordanland regierte, einige der palästinensischen Flüchtlinge in Sheikh Jarrah an - gemeinsam mit dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNWRA. Im Gegenzug gaben sie ihren Flüchtlingsstatus ab. Nach dem Sechs-Tage Krieg besetzte Israel Ostjerusalem. Später annektierte es das Gebiet und erklärte die Stadt zur ungeteilten Hauptstadt des Landes.

"Diskriminierende Gesetzgebung" 

Die Räumungsklagen wurden von der Organisation Nahalat Shimon eingereicht. Sie will das Land von zwei jüdischen Organisationen gekauft haben, die das Stück Land bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Besitz gehabt haben sollen. Für Jerusalems stellvertretenden Bürgermeister und Siedlervertreter Arieh King sind die palästinensischen Familien im besten Fall "Hausbesetzer".

"Das Land gehört Juden schon seit über hundert Jahren. Sie haben hier immer gelebt, und es gehört ihnen," sagt King. "Was sich geändert hat, ist dass auf einmal die Araber behaupten, es sei ihr Land und dass sie nicht akzeptieren, dass Juden die Besitzer sind." Er hofft, dass das Gericht bald entscheiden wird, dass die Häuser geräumt werden müssen - auch wenn es zu mehr Spannungen führen könnte. "Es ist nur ein sehr kleiner Konflikt auf lokaler Ebene, es hat keine Auswirkungen auf den Rest von Jerusalem oder Israel, es geht hier um wenige arabische Familien die das Gesetz gebrochen haben."

Immer wieder kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen im Streit um israelische Siedlungen, wie hier im Westjordanland Bild: Abbas Momani/AFP/Getty Images

Die Situation wird dadurch verschärft, dass die israelische Gesetzgebung Palästinensern verwehrt, Besitztum oder Entschädigung für Besitz einklagen zu können, den sie im Zuge des Israelisch-Arabischen Kriegs von 1948 verloren haben - anders als Israelis, die damals verlorenes Besitztum einklagen können. "Die legale Grundlage dieser Räumungen ist eine diskriminierende Gesetzgebung," sagt Hagit Ofran von Peace Now, einer israelischen Anti-Siedlungs-Organisation. "Es ist nicht eine rein legale Sache. Es ist eine politische Angelegenheit, die mit legalen Mitteln erwirkt wird," sagt Ofran, die die Verfahren verfolgt. "Die Prozesse sind nur ein Mittel, um Hunderte von Palästinensern aus Sheikh Jarrah oder Silwan zu vertreiben, um sie mit Siedlern zu ersetzen."

Die Vereinten Nationen schalten sich ein 

Das israelische Oberste Gericht hatte einen umstrittenen Kompromiss zwischen der Siedlerorganisation und den palästinensischen Familien vorgeschlagen. Demnach sollten die palästinensischen Familien den israelischen Besitzer anerkennen, und im Gegenzug ein geschütztes Mietverhältnis erhalten. Das hat die palästinensische Seite abgelehnt. Nun könnten die vier Familien nach Ende des Ramadans ihre Häuser verlieren - das Oberste Gericht will am Montag darüber entscheiden, ob die Familien nochmals Einspruch erheben können. Unterdessen wurden die Siedlungs-Pläne von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und anderen Ländern verurteilt. Die bevorstehenden Räumungen rufen "ernsthafte Besorgnis" hervor. "Solche Aktionen sind illegal unter internationalem humanitärem Recht und dienen nur dazu, Spannungen weiter anzufachen," sagte EU-Sprecher Peter Stano am Samstag. 

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