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Politik

Proteste richten sich jetzt gegen Hamas

24. März 2019

Seit Wochen sieht sich die den Gazastreifen regierende Hamas einer wachsenden Protestbewegung gegenüber. Noch formulieren die Demonstranten überwiegend soziale Anliegen. Doch politische Forderungen könnten hinzukommen.

Sicherheitskräfte Hamas
Bild: AFP/Getty Images/M. Abed

In Massen sollten sie am 30. März gegen die israelische Besatzung protestieren, rief Hamas-Führer Ismail Haniya die Bewohner des Gazastreifens am Sonntag auf. Kurz zuvor hatte die israelische Armee Luftangriffe auf zwei Hamas-Stellungen geflogen. Als Reaktion auf gewalttätige Proteste von Palästinensern am Grenzzaun zu Israel, wie die israelische Armee später erklärte. Palästinenser hätten dabei Sprengsätze in Richtung des Grenzzauns geworfen. Einer von ihnen löste demnach einen Bombenalarm im Süden Israels aus.

Die Proteste gegen Israel halten seit Monaten an. Seit ihrem Beginn im März 2018 starben dabei mindestens 258 Palästinenser und zwei israelische Soldaten.

Die Kundgebungen am Grenzzaun zu Israel verdecken einen anderen Konflikt, der die Bürger des Gazastreifens in Atem hält. Vor einem guten Monat gründete sich in Gaza-Stadt die Bewegung "Bidna na'isch"  ("Wir wollen leben"), ein Zusammenschluss zunächst von unabhängigen Medienaktivisten, die rasch Verbreitung unter zahlreichen Jugendlichen im Gazastreifen fand.

Mitte März protestierten die Anhänger der Bewegung erstmals öffentlich. Die regierende Hamas reagierte umgehend: Sicherheitsleute trieben die Demonstranten gewalttätig auseinander, wie im Internet kursierende Videos belegen. Während und nach der Demonstration nahmen die Sicherheitsleute zahlreiche Demonstranten fest.

Im Tränengas: Palästinenser demonstrieren an der Grenze zu Israel, Juli 2018 Bild: picture-alliance/AP Photo/K. Hamra

"Bewegung aus der Mitte der Bevölkerung"

Der Bewegung, sagte eine Teilnehmerin gegenüber dem katarischen Nachrichtensender Al-Dschasira, verfolge hauptsächliche soziale Anliegen. "Es handelt sich um eine Bewegung, die aus der Bevölkerung kommt", so die junge Frau. "Die Leute gehen auf die Straße, um eine Lösung angesichts ihrer elenden Lebensbedingungen zu fordern." Entsprechend seien auch die Slogans der Bewegung formuliert: "Wir wollen leben. Wir wollen arbeiten. Unsere Zukunft ist verloren."

Politisches Gewicht erhält "Wir wollen leben" durch den Umstand, dass rund ein Dutzend politisch gegen die Hamas gerichteter Gruppierungen die Bewegung unterstützen. Ihre Position brachten sie in einem gemeinsamen Kommuniqué zum Ausdruck. Der wesentliche Grund für die Krise des Gazastreifens liege zwar in der Besatzung und Absperrung des Gazastreifens durch Israel wie auch der damit verbundenen Spaltung der palästinensischen Bevölkerung. Allerdings täten auch "die Verantwortlichen" im Gazastreifen das ihre dazu, die Lebensbedingungen der Menschen zu erschweren, insbesondere durch die Erhebung zu hoher Steuern und Abgaben. Auch beklagen die Unterzeichner die steigenden Lebenshaltungskosten.

Zudem seien Rechte und Freiheiten nicht mehr gewährleistet, so das Kommuniqué. Stattdessen sähen sich die Menschen Verfolgung, Verhaftung, Einschüchterung oder Dämonisierung ausgesetzt. "Wir rufen die Hamas und die Offiziellen in Gaza auf, ihre Sicherheitskräfte von den öffentlichen Straßen und Plätzen abzuziehen und sämtliche aus den Reihen der Bewegung entstammenden Verhafteten oder im Gefängnis befindlichen Personen freizulassen."

Gerüstet: Sicherheitskräfte der Hamas, März 2018Bild: AFP/Getty Images/M. Hams

Kritik von Menschenrechtlern

Durch die Proteste ist die Hamas innenpolitisch unter Druck geraten. Auch die parteiübergreifende, 1993 gegründete "Independent Commission of Human Rights" (ICHR), kritisierte die Reaktion der Hamas auf die Proteste der Bewegung "Wir wollen leben". Die Menschenrechtsorganisation kritisiert den "exzessiven Einsatz von Gewalt", den die Sicherheitskräfte hätten erkennen lassen. Diese hätten "Hunderte" - insgesamt über 1000 - Demonstranten festgesetzt und auf diese Weise die Presse- und Meinungsfreiheit enorm eingeschränkt. Zudem hätten die Sicherheitskräfte auch Menschenrechtsverteidiger ins Visier genommen.

Das harsche Vorgehen der Sicherheitskräfte wurde in Medien mehrerer Länder der Region, aber auch in westlichen Medien ausführlich thematisiert. Für die Hamas ist das ein großer Imageschaden. Umgehend machte ein Sprecher die innenpolitische Konkurrenz von der säkularen Fatah und der von ihr dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde für die Zusammenstöße verantwortlich. Diese habe ihre Angestellten in Gaza angewiesen, Unruhen anzuzetteln. Täten sie das nicht, hätte die Behörde ihnen mit Einbehaltung des Gehalts gedroht, so der Vorwurf des Hamas-Sprechers gegenüber "Al-Jazeera". "Wir betonen, dass wir friedliche Proteste unterstützen, aber wir werden nicht hinnehmen, dass diese dazu missbraucht werden, um Chaos zu verbreiten", so der Sprecher.

Unter Druck: Hamas-Chef Ismail Haniyeh (Mi.)Bild: picture-alliance/ZUMAPRESS/A. Baarhoum

Politisierung der Proteste möglich

Die Proteste fallen in eine Zeit extremer wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Dem zentralen palästinensischen Statistik-Büro zufolge lag die Arbeitslosigkeitim Gazastreifen im Jahr 2018 bei 52 Prozent - ein Plus von sieben Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr und mehr als 20 Prozentpunkte gegenüber der Machtübernahme der Hamas im Jahr 2007. Preiserhöhungen grundlegender Verbrauchsgüter haben den Bewohnern des Gazastreifens in den vergangenen Monaten noch einmal besonders zugesetzt.

Offen ist, wohin die Proteste führen. Die der Hamas äußerst kritisch gegenüberstehende israelische Zeitung "Jerusalem Post" (JP) schließt nicht aus, dass sich die Proteste ausweiten könnten, sowohl mit Blick auf die Teilnehmerzahlen wie auch hinsichtlich der Forderungen. Womöglich, so ihre Schlussfolgerungen, könnten die Demonstranten sich grundlegende Forderungen zu eigen machen ähnlich jenen, wie sie im Jahr 2011 die Protestbewegungen in mehreren arabischen Ländern formulierten. Die Hamas, so die JP, sei entsprechend nervös.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika