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Politik

Jennifer W. und der Blick in den Abgrund

Esther Felden
9. April 2019

Zum ersten Mal wird in Deutschland der Völkermord an den Jesiden vor Gericht verhandelt. Eine deutsche IS-Rückkehrerin muss sich wegen Mordes und Beteiligung an Kriegsverbrechen verantworten. Aus München Esther Felden.

Deutschland München | Prozess Jennifer W., IS-Rückkehrerin
Bild: Getty Images/S. Widmann

Sie trägt eine weiße Bluse und einen schwarzen Blazer, keine muslimische Abaya. Und auch kein Kopftuch. Die dunklen Haare hat sie zu einem streng nach hinten gekämmten langen Zopf geflochten. Betont konservativ, optisch unauffällig tritt die Angeklagte Jennifer W. auf. Und betont westlich. Die fanatische Islamistin, die sie sein soll, sieht man ihr nicht an. Das Outfit habe sie selbst gewählt, sagt Ali Aydin, einer ihrer Anwälte später, er habe sie nicht beraten. 

Jennifer W.'s Gesicht ist nicht zu sehen, als sie den Sitzungssaal B277 des Oberlandesgerichts in München (OLG) betritt, sie hat es hinter einem Aktenordner versteckt. Erst als die Kamerateams den Saal verlassen haben, sieht man ihre Gesichtszüge, wie eingefroren wirken sie. Sie hockt sich mit hängenden Schultern zwischen ihre beiden Verteidiger, schaut weder nach rechts noch nach links, blickt durch ihre dick umrandete schwarze Brille scheinbar ins Leere.

Regungslos lauscht sie der Verlesung der Anklageschrift durch die Oberstaatsanwältin des Bundesgerichtshofs. Im Saal ist es still. Etwa 50 Plätze bietet der Raum für Zuschauer und Journalisten, er ist bis auf den letzten Platz gefüllt. An der Wand hinter den Richtern hängt ein dunkles Holzkreuz, so ist es seit 2018 Pflicht in allen bayerischen Amtsstuben. 

Oberstaatsanwältin Claudia Gorf (links) verliest die AnklageschriftBild: DW/M. von Hein

Mord aus niederen Beweggründen

Die heute 28jährige IS-Rückkehrerin Jennifer W. ist angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und auch wegen Beteiligung an einem Kriegsverbrechen. Sie soll tatenlos mit angesehen haben, wie ihr Ehemann - ein IS-Kämpfer - ein fünfjähriges jesidisches Mädchen, das als Sklavin im Haushalt des Paares lebte, verdursten ließ. Sie habe "einen Menschen grausam und aus niederen Beweggründen getötet", heißt es dazu in der Anklage der Bundesanwaltschaft.

Mit ausdruckslosem Gesicht folgt Jennifer W. der 15-minütigen Verlesung der Anklage durch Oberstaatsanwältin Gorf. "Obwohl die Angeschuldigte erkannte, dass das Mädchen mangels Flüssigkeit versterben würde, blieb sie untätig und versorgte es weder mit Wasser noch löste sie die Handschellen", liest Gorf vor. Jennifer W. hält den Kopf leicht nach links geneigt, die Hände sind unter dem Tisch, nicht zu sehen. 

Die Beteiligung Jennifer W.'s am Tod des jesidischen Kindes durch unterlassene Hilfeleistung sei der Hauptvorwurf gegen die Angeklagte, erklärt Claudia Gorf, Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof. "Das ist ein Tatvorwurf nach dem Völkerstrafrecht und kann im Höchstfall mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden."

Völkermord: Diesen beiden traumatisierten Jesidinnen gelang die Flucht aus dem IS-Gebiet im Irak Bild: picture-alliance/ZUMA Wire/C. Guzy

Der Wille des Ehemanns

Verteidiger Ali Aydin sieht das anders. Seine Mandantin sei aufgrund ihrer untergeordneten gesellschaftlichen Stellung als Frau im Islamischen Staat gar nicht in der Position gewesen, einzugreifen. In diesem Punkt liegt seiner Meinung nach ein genereller Widerspruch im viel diskutierten Umgang mit den Frauen im Kalifat. "Wir können nicht einerseits sagen: Frauen haben dort nichts zu melden und dann sagen wir im nächsten Absatz: Ja, aber hier hätte sie ja irgendetwas machen können entgegen dem Willen des Ehemannes."

Ob seine Mandantin Reue gezeigt habe nach dem Tod des Kindes? Aydin gibt sich geschmeidig. "Der Tatvorwurf lässt niemanden kalt. Schon gar nicht, wenn man selbst Mutter ist." Tatsächlich wird Jennifer W. im Jahr 2015 schwanger. Vor der Geburt des Kindes reist sie nach Deutschland, in ihre Heimat Niedersachsen.

Nach der Geburt ihrer Tochter bleibt sie zunächst ihrer radikalislamischen Ideologie treu. Sie ist in dschihadistischen Internetforen aktiv und beschreibt dort die Zeit bei IS trotz aller Entbehrungen als "das Beste" für sie. Ihr bislang namentlich nicht bekannter Ex-Mann lebt nach Aussagen von Anwalt Aydin bis heute im "außereuropäischen Ausland".

Wanzen im Auto

Anwältin Anna Bonini aus der Londoner Kanzlei von Amal Clooney vertritt in München die Mutter des ermordeten Jesidenmädchens Bild: Getty Images/S. Widmann

Jennifer W. möchte zurück zum Islamischen Staat, gemeinsam mit ihrer Tochter. Doch der Mann, der sie vermeintlich bei der Ausreise unterstützen soll, entpuppt sich als FBI-Mitarbeiter und Vertrauensperson der niedersächsischen Polizei. Während sie mit ihm im verwanzten Auto sitzt, erzählt sie von ihrer Zeit in Syrien und im Irak. Von der Sittenpolizei und von dem toten jesidischen Mädchen. Alles wird mitgeschnitten. In Bayern schnappt die Falle dann zu. Jennifer W. wird festgenommen, sitzt seitdem in München in Untersuchungshaft. Deshalb findet der Prozess gegen sie auch dort statt. 

Anwalt Aydin kritisiert die aus seiner Sicht schwierige Beweislage gegenüber seiner Mandantin. "Es gibt es keine objektiven Beweismittel, dass Jennifer W. tatsächlich für die Sittenpolizei tätig war", sagt er. Allein die Tatsache, dass sie auf der vermeintlichen Rückreise zum IS im Auto davon erzählt habe, reiche nicht aus. Es sei durchaus denkbar, dass Jennifer damals nur angeben wollte.

Vor den Augen der Mutter

Tatsächlich kommt es wenige Wochen vor Prozessbeginn zu einer überraschenden Wendung und neuen Erkenntnissen: Einer jesidischen Hilfsorganisation ist es offenbar gelungen, die Mutter des toten Kindes ausfindig zu machen. Auch sie war nach eigener Aussage Sklavin im Haushalt von Jennifer W. und ihrem Mann, und musste mit ansehen, wie ihre Tochter starb. Diese Frau stehe dem Gericht jetzt als Zeugin zur Verfügung, bestätigt Oberstaatsanwältin Claudia Gorf. 

Menschenrechtsanwältin Amal Clooney vertritt gemeinsam mit Natalie von Wistinghausen die Mutter des ermordeten JesidenmädchensBild: picture-alliance/abacapress/D. Van Tine

Die Geschichte ihrer Tochter erzählen zu können, das sei extrem wichtig für ihre Mandantin, sagt Natalie von Wistinghausen, die die jesidische Mutter gemeinsam mit der Kanzlei von Menschenrechtsanwältin Amal Clooney - der Ehefrau von Schauspieler George Clooney - vertritt. Für die gesamte jesidische Gemeinschaft sei dies ein großer Tag.

"Es ist das erste Mal, dass ein vermeintliches IS-Mitglied wegen Verbrechen gegen Angehörige der Jesiden angeklagt ist." Das Verfahren sei eine Gelegenheit, Gerechtigkeit herzustellen, verbunden mit der Hoffnung, dass in Zukunft mehr solcher Verfahren folgen könnten, in Deutschland und anderswo.

Zum Prozessauftakt war die Mutter des toten Mädchens noch nicht persönlich im Gerichtssaal des OLG München - doch ihre Aussage war der Grund dafür, dass der vorsitzende Richter die Sitzung nach gerade einmal einer halben Stunde schon wieder schloss. Begründung: Alle Beteiligten müssten Gelegenheit haben, sich auf die neue Situation vorzubereiten. Für den Prozess sind derzeit noch 21 weitere Verhandlungstage angesetzt. Doch durch die jüngsten Entwicklungen könnten weitere hinzukommen.

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