Pulitzerpreis für Anthony Doerr
21. April 2015Marie-Laure LeBlanc ist eine große, sommersprossige Pariser Sechsjährige mit schnell abnehmendem Sehvermögen, als ihr Vater sie auf eine Kinderführung durch das Museum schickt, in dem er arbeitet.
So beginnt der Roman des 1973 in Cleveland geborenen Autors. Rund 30 Seiten später beginnt das Buch praktisch noch einmal:
Werner Hausner wächst fünfhundert Kilometer nordöstlich von Paris auf dem Gelände der Zeche Zollverein auf, einem viertausend Morgen großen Kohlebergbaukomplex außerhalb von Essen.
Es sind vornehmlich diese beiden Figuren, die uns Doerr vorstellt, die der Leser auf den folgenden 500 Seiten begleitet. In kurzen Kapiteln, die im steten Wechsel aufeinanderfolgen, lernt er das kleine französische Mädchen und den Heranwachsenden aus Deutschland kennen. Die Fabel beginnt im Jahr 1934 und endet zehn Jahre später, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg, Frankreich und Deutschland, das sind die zeitlichen und geografischen Koordinaten des Romans.
Die Welt aus der Perspektive eines blinden Mädchens
Marie-Laure erkrankt an Grauem Star und erblindet schon zu Beginn der Erzählung. Sie wächst bei ihrem Vater auf, der sich hingebungsvoll um sie kümmert, der sie lehrt, wie man auch ohne Augenlicht in der Welt überleben kann. Ihr Vater arbeitet im "Muséum National d'Histoire Naturelle" und an seinem unerschöpflichen Wissen über die Ursprünge von Mensch und Natur orientiert sich die Kleine.
Für den Deutschen Werner Hausner hingegen sind Technik und Wissenschaft Leitlinien des Lebens. Der Junge, der als Waise mit seiner jüngeren Schwester in einem Heim aufwächst, begeistert sich für alles, was mit der neuen Technik des Radios zu tun hat.
Zunächst lässt Doerr seine beiden Handlungslinien noch parallel zueinander verlaufen. Erst als Marie-Laure und ihr Vater aus dem von den Deutschen besetzten Paris zu einem Onkel nach Saint-Malo in die Bretagne flüchten, kreuzen sich die Erzählstränge. Werner, inzwischen für eine Spezialeinheit der Wehrmacht in Frankreich im Einsatz, hat die Aufgabe, mit Peilgeräten die Sender der französischen Résistance aufzuspüren. Für zusätzliche Spannung sorgt noch ein besonders wertvolles Exponat aus dem Naturmuseum, das Marie-Laures Vater auf der Flucht vor den Nazis mitgenommen hat. Auch die Deutschen interessieren sich für diesen Schatz, dem magische Eigenschaften nachgesagt werden.
Historie und menschliches Schicksal
"Alles Licht, das wir nicht sehen" ist ebenso ein historischer Roman über den Zweiten Weltkrieg wie ein Psychogramm zweier junger Menschen in Zeiten des Krieges, ein Buch, das versucht mit poetischen Mitteln tief in die Psyche seiner Protagonisten einzudringen. "Doerr […] überpudert seine Szenerie, die vom Ende der zwanziger Jahre bis 1945 reicht, mit einer Magie, die dem Roman etwas Unwirkliches verleiht und gleichzeitig seinen Zauber ausmacht", schrieb eine deutsche Kritikerin über das jetzt mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Buch.
Doerr werde für seinen "einfallsreichen und komplexen Roman, der von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges inspiriert ist", gewürdigt, so das Pulitzer-Preiskomitee in New York. Der Autor schreibe in "kurzen, eleganten Kapiteln, die die menschliche Natur und die widersprüchliche Kraft der Technik erkunden". Dem ist nicht zu widersprechen. Zwar montiert der Autor verschiedene Zeitebenen und -sprünge, arbeitet auch mit Rückblenden, doch hat der Leser keine Mühe der Handlung zu folgen. Doerr steht in der Tradition klassischer amerikanischer Erzählkunst, nicht Experiment und Wagnis sind seine Ziele, sondern Emotion und Identifikation. Der Roman ist im besten Sinne ein Schmöker über den Zweiten Weltkrieg mit - und das mag aus deutscher Sicht überraschen - einem jugendlichen Protagonisten in Uniform, dem man sich gerne und mit Sympathie nähert. Interessant auch das Thema Deutsch-Französische Freundschaft, das in der Beziehung der beiden jungen Menschen angeschnitten wird.
Anthony Doerr legt mit "Alles Licht, das wir nicht sehen" einen süffig geschriebenen und leicht zu lesenden, sehr unterhaltenden Historien-Roman vor. Doerr hat Geschichte studiert, das Buch des fast 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geborenen angelsächsischen Autors ist historisch detailreich und gut recherchiert. Für manch deutschen Leser mag der Stoff in Verbindung mit der auf emotionale Zuspitzung setzenden Dramaturgie zu Irritationen führen. Romane über den Zweiten Weltkrieg von hiesigen Schriftstellern fallen meist ernster aus, auch formal weniger konventionell.
Bestsellererfolg in den USA
In den USA hielt sich "Alles Licht, das wir nicht sehen" lange auf Platz 1 der Bestsellerliste der "New York Times" und wurde in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr mehrfach als "Buch es Jahres" ausgezeichnet. Die Rechte für die Übersetzungen in andere Sprachen verkauften sich in fast 40 Länder. Auch eine Kinoverfilmung ist in Planung - zumindest hat sich das Studio "20th Century Fox" die Rechte an dem Roman gesichert.
Anthony Doerr: "Alles Licht, das wir nicht sehen", aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence, Beck Verlag 2015, 520 Seiten, ISBN 978-3-406-68063-2.