1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikSerbien

Was passiert im Norden Kosovos?

Bahri Cani | Nemanja Rujevic
27. Dezember 2022

Serbien hat kurzzeitig Haubitzen an die Grenze zu Kosovo verlegt. Damit erreichen die kosovarisch-serbischen Spannungen erneut einen gefährlichen Höhepunkt. Internationale Gemeinschaft sucht nach Lösungen.

Konflikt im Nord-Kosovo
Serbische Haubitzen an der Grenze zu Kosovo auf einem Foto des serbischen Verteidigungsministeriums vom 26.12.2022Bild: Serbian Defense Ministry Press /AP/picture alliance

Die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo machen wieder Schlagzeilen. Das Epizentrum im Konflikt zwischen der serbischen Minderheit und der albanischen Mehrheit ist der Norden der Republik Kosovo.

Was ist die neueste Entwicklung?

Am Montag, 26.12.2022, hat die serbische Armee kurzzeitig Haubitzen in einem Ort stationiert, der nur zwei Kilometer von der kosovarischen Grenze entfernt ist. Nach einem Fotoshooting und dramatischer Berichterstattung in regierungsnahen Medien in der serbischen Hauptstadt Belgrad verschwanden die Waffen wieder in der Kaserne.

Zu der abermaligen Verschärfung der Lage an der Grenze war es gekommen, nachdem Augenzeugen und KFOR von Schüssen in der Nähe einer Barrikade berichtet hatten, die kosovarische Serben in den vergangenen Wochen errichtet hatten. Wer geschossen hat und ob es sich "nur" um Warnschüsse oder einen Feuerwechsel handelte, ist bisher unklar. 

Kosovos Premierminister Albin Kurti forderte die NATO-Schutztruppe KFOR auf, die serbischen Straßenblockaden zu beseitigen. "Wenn KFOR nicht in der Lage ist, die Barrikaden zu entfernen, oder es aus mir unbekannten Gründen nicht tut, dann müssen wir es tun," so Kurti am 27.12.2022 in einem Interview mit der bosnischen Webseite istraga.ba. 

Warum spricht man von "Nordkosovo"?

Es geht um das Gebiet nördlich des Flusses Ibar in Kosovo. Die vier Kommunen sind fast ausschließlich von Serben bewohnt, die Kosovos Eigenstaatlichkeit nicht akzeptieren. Sie pflegen enge Verbindungen zu  Serbien, haben aber zehn garantierte Sitze im kosovarischen Parlament und stellen zwei Minister in der Regierung. Die kosovarische Regierung in Pristina hat seit dem Ende des Kosovo-Kriegs 1999 nie die volle Kontrolle im Norden des Landes gehabt.

Serbische Fahnen in der Stadt Mitrovica im Norden KosovosBild: Ognen Teofilovski/REUTERS

Diese Lage macht aus dem Norden, wo rund 60.000 Menschen leben, eine nahezu rechtsfreie Zone, ein Eldorado für Kriminelle und Schmuggler. Die führenden serbischen Politiker dort sind ausnahmslos treue Verbündete des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic.

Die Serben des Kosovo hegen ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Regierung in Pristina. Dieses wird vor allem dadurch verstärkt, dass regelmäßig Sondereinheiten der kosovarischen Polizei in den Norden geschickt werden, oft unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung.

Was ist Anlass für die aktuellen Barrikaden?

Straßenblockaden und Barrikaden sind ein erprobtes Mittel in der Auseinandersetzung zwischen Kosovo und Serbien. Die in Chat-Gruppen organisierten Blockierer sind in der Lage, innerhalb von Minuten den Norden des Landes völlig lahmzulegen, indem sie Straßen und Grenzübergänge blockieren.

Hintergrund der Proteste ist die Verhaftung früherer Kosovo-Polizisten serbischer Nationalität. Die kosovarische Staatsanwaltschaft wirft einem von ihnen vor, einen Bombenanschlag auf die Räumlichkeiten der Wahlkommission im serbisch dominierten Norden der Stadt Mitrovica verübt zu haben. Neben der Freilassung der Polizisten verlangen die protestierenden Serben, dass sich Sondereinheiten der kosovarischen Polizei aus dem Norden des Landes zurückziehen.

Zwei LKW blockieren die Straße vor der technischen Schule im Norden von MitrovicaBild: Bojan Slavkovic/AP/picture alliance

Die Serben wollten die Lokalwahlen im Norden Kosovos verhindern, die nötig geworden waren, nachdem alle serbischen Amtsträger Anfang November 2022 die kosovarischen Institutionen verlassen hatten. Sie zogen sich sowohl aus dem Parlament als auch aus der Regierung zurück. Auch die vier Bürgermeister im Norden des Landes legten ihre Ämter nieder. Mehrere hundert serbische Polizisten verließen die kosovarische Polizei, genauso wie serbische Richter, die im Norden Kosovos nicht mehr zu Arbeit gehen.

Der Boykott der kosovarischen Institutionen war eine Reaktion auf das Vorhaben von Albin Kurti, die von den serbischen Behörden ausgestellten Autokennzeichen in Kosovo zu verbieten und gegen kosovarische auszutauschen. Für Kurti ist das eine prinzipielle Frage der "Gegenseitigkeit", weil Serbien kosovarische Autokennzeichen nicht akzeptiert; für Präsident Vucic und die Kosovo-Serben handelt es sich um die Vorbereitung einer "ethnischen Säuberung".

Inzwischen hat die Regierung in Pristina beide Vorhaben - die Lokalwahlen und die Einführung neuer Kennzeichen - verschoben, wohl auf Druck der EU und vor allem der USA. Jetzt verlangt der Westen auch von Serbien, für Entspannung zu sorgen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus.

Kann Serbien wirklich Militär entsenden?

Das gilt als unwahrscheinlich. Vucic hatte in den vergangenen Jahren serbische Truppen mehrmals in "erhöhte Bereitschaft" versetzt und sie bis nahe an die kosovarische Grenze beordert. Mitte Dezember 2022 hat die Regierung in Belgrad offiziell bei KFOR beantragt, serbische Polizisten und Soldaten auf kosovarischem Territorium zu stationieren.

US-Soldaten der Kosovo-Friedenstruppe KFOR bewachen einen Kontrollpunkt an der Grenze zu SerbienBild: Marjan Vucetic/AP Photo/picture alliance

Diese Möglichkeit ist in der UN-Resolution 1244 von 1999 vorgesehen, die nach einer faktischen Kapitulation Serbiens nach dem Kosovo-Krieg und der NATO-Bombardierung gilt. Laut der Resolution kann Serbien "einige Hundert" Ordnungskräfte zurück nach Kosovo schicken - wenn die internationale Militärmission KFOR dem zustimmt.

Auch Vucic sagt offen, dass sein Vorschlag wohl abgelehnt werde. Analysten in Belgrad deuten deswegen seine Forderung als reine Propaganda. Der serbische Präsident wolle sich als Vorkämpfer für das Serbentum hervorheben, so seine Kritiker. Aber selbst wenn Belgrad ernsthaft die militärische Option erwägen sollte, wäre diese wohl aussichtslos, weil sie auch eine direkte Konfrontation mit den in Kosovo stationierten internationalen Polizei- und Militäreinheiten zur Folge hätte.

Ist eine Lösung des Konflikts in Sicht?

Nicht wirklich, auch wenn der Westen letztlich mehr Druck ausübt. Die Positionen der Konfliktparteien sind gefestigt: In Belgrad möchte man "niemals" über die Anerkennung der "völkerrechtswidrigen Abspaltung" verhandeln. In Pristina erwidert man, die Gespräche mit den "ehemaligen serbischen Besatzern" machten nur Sinn, wenn am Ende die Anerkennung folge.

Bis heute erkennen 117 Länder Kosovo als unabhängigen Staat an, darunter 22 der 27 EU-Mitglieder. Ohne serbische Zustimmung kann Kosovo kein UN-Mitglied werden, denn dort sitzen mit Russland und China zwei Partner Serbiens als Vetomächte im Sicherheitsrat.

Die Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt MitrovicaBild: Idro Seferi/DW

Jetzt soll ein deutsch-französischer Vorstoß Bewegung in die Sache bringen. Bislang hat die Öffentlichkeit nur an die Presse geleakte Auszüge des Plans gesehen. Aber auch Eingeweihte bestätigen, dass der "Grundlagenvertrag" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR als Vorbild dienen soll. Serbien müsste Kosovo demnach nicht explizit anerkennen, aber die territoriale Integrität und Souveränität der ehemaligen Südprovinz akzeptieren und ihre Mitgliedschaft in allen internationalen Organisationen nicht mehr aktiv blockieren.

Als Zuckerbrot soll für beide Länder eine "EU-Perspektive" dienen. Allerdings steht eine EU-Erweiterung auf dem Westbalkan bislang in den Sternen. Serbien ist seit 2012 offiziell EU-Kandidat, die Verhandlungen verlaufen aber schleppend. Kosovo hat den Kandidatenstatus im Dezember 2022 beantragt.

Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Kontrahenten aus?

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gibt es Befürchtungen, dass Moskau seine engen Beziehungen zu Serbien nutzen könnte, um auf dem Balkan eine "Nebenfront" zu eröffnen. Diese Karte spielt auch der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti: Analog zu Russland träume man in Belgrad von der Wiederherstellung einer "serbischen Welt" in der Region. Serbiens Präsident Vucic kontert mit der Bemerkung, Kurti geriere sich als "kleiner Selenskyj".

Vucic hat eindeutig schlechtere Karten. Serbien hat sich zum Ärger der EU den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Laut Umfragen lehnen über 80 Prozent der Serben solche Sanktionen gegen einen "Bruderstaat" ab. Serbien ist nicht nur von russischem Gas abhängig, sondern auch von russischer Unterstützung in der Kosovo-Frage.

Andererseits ist die serbische Wirtschaft komplett in Richtung Westen orientiert. Allein deutsche Firmen in Serbien sichern rund 75.000 Arbeitsplätze. Westliche Politiker, auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, scheinen entschlossen, den russischen Einfluss auf dem Balkan eindämmen zu wollen. Es wird schon gemunkelt - und Kurti sagt es ganz offen: Man erwarte ein "umfassendes Normalisierungsabkommen" zwischen Serbien und Kosovo im Frühjahr 2023. Nach jetzigem Stand klingt das übertrieben optimistisch.

Dieser Beitrag erschien erstmalig am 14.12.2022 und wurde am 27.12.2022 aktualisiert. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen