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Putins Vierteljahrhundert: Wie er seine Macht zementiert hat

8. August 2024

Am 9. August 1999 wurde Wladimir Putin erstmals Ministerpräsident in Russland. Heute herrscht er wie ein Diktator. Der Rückblick zeigt, wie der ehemalige KGB-Offizier dies geschafft hat. Von Juri Rescheto, Riga.

Russland Sankt Petersburg | Präsident Wladimir Putin am Mikrofon auf einem Boot bei der Marineparade
Machtdemonstration: Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer MarineparadeBild: Vyacheslav Prokofyev/Sputnik/Pool via REUTERS

Als Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ihre politische Karriere vor drei Jahren beendete, sollte ich in Moskau für eine Dokumentation ihren Counterpart, Russlands Staatschef Wladimir Putin interviewen. Im selben Beitrag sollten auch andere Staats- und Regierungschefs zu Wort kommen, mit denen Merkel im Laufe ihrer Karriere zusammengearbeitet hatte. Ein Blick zurück auf die deutsche Regierungschefin.

Aber der Kreml sagte: Nein. Die Begründung war: Alle anderen Interviewpartner seien Ex-Chefs, der russische Präsident dagegen sei immer noch im Amt. Unwürdig sei das dem Kremlchef gegenüber. Immerhin durfte ich dann Ex-Präsident Dmitri Medwedew interviewen. Der war von 2008 bis 2012 eine Amtszeit lang eine Art Interims-Staatschef, weil Putin damals aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erneut als Präsident kandidieren durfte und stattdessen als Ministerpräsident vom Hintergrund aus die Fäden im Kreml zog.

Der frischernannte Ministerpräsident Putin bei Staatschef Jelzin (1999)Bild: ITAR-TASS/dpa/picture alliance

Medwedew war also zu keiner Zeit die Nummer eins in Russland. Das ist seit fünfundzwanzig Jahren allein Wladimir Putin, seitdem er am 9. August 1999 vom damaligen Staatschef Boris Jelzin zunächst zum russischen Ministerpräsidenten ernannt wurde. Westliche Politiker, einschließlich der Langzeitkanzlerin Merkel, kommen und gehen. Putin bleibt.

Grundstein von Putins Macht: die Beseitigung regionaler Autonomie

In diesen fünfundzwanzig Jahren habe der russische Präsident sein Land zur "stärksten personalisierten Diktatur der Welt" umgebaut, so die Einschätzung des russischen Politikwissenschaftlers Michail Komin. "Russland ist natürlich nicht Nordkorea, dafür ist das Land zu groß. Aber immer mehr Bürger werden genauso auf Linie gebracht."

Politikwissenschaftler Komin: "Bürger auf Linie gebracht"Bild: Michail Komin

Und der Staat fordere von diesen Bürgern immer mehr Treue. Dies sei möglich, sagte Komin der Deutschen Welle, weil Putin alle politischen Institutionen Russlands im Laufe des Vierteljahrhunderts, in dem er an der Macht ist, konsequent geschwächt habe.

Sein Ziel sei von Anfang an der Umbau der Demokratie zu seinem Vorteil gewesen: "Heute ist die gesamte Macht im russischen Staat in den Händen einer einzigen Person konzentriert, in den Händen von Putin."

Angefangen habe alles mit der Beseitigung der "regionalen Autonomie", erinnert Komin: "Eine der wichtigsten politischen Reformen der ersten Amtszeit von Putin war die Etablierung der sogenannten Vertreter des Präsidenten in den Regionen." Diese sollten die regionale Politik kontrollieren. Damit habe der Kreml sein eigenes Kontrollinstrument in den Regionen geschaffen - ein Grundstein für die Zementierung der Macht. "Der Einfluss des Kremls wurde nicht nur auf die Gouverneure, sondern auch auf ihre Umgebung einschließlich der lokalen Großunternehmer legitimiert", so Komin.

Dieser Meinung ist auch der in Finnland lebende russische Politikwissenschaftler Grigori Nischnikow: "Wenn wir uns an Russland aus früheren Putin-Jahren erinnern, fallen uns mehrere autonome Machtzentren ein, sowohl konstitutionelle als auch informelle, wie etwa die Oligarchen. Sie alle bildeten eine Art Gegengewicht zum Kreml." Putin habe das alles vernichtet, alles zentralisiert und Russlands Machtsystem auf sich ausgerichtet, so Nischnikow im DW-Interview.

Bei Widerstand verstärkt Putins Machtappart die Repressionen

Das sei aber nicht der einzige Grund, warum der russische Präsident so lange an der Macht bleibe, glaubt der Experte. Denn es habe im vergangenen Vierteljahrhundert genug Ereignisse gegeben, die für Putin hätten gefährlich werden können:

  • Proteste nach der Parlamentswahl 2011 auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau
  • die Gefahr einer instabilen Situation auf der Krim nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel 2014
  • Unruhen nach der umstrittenen Rentenreform 2018
  • massenhafte Nawalny-Proteste in den folgenden Jahren in ganz Russland
  • schließlich der Beginn des Kriegs in der Ukraine, der von Straßenprotesten in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg begleitet wurde.

Aber auf jeden Widerstand der Bevölkerung seien noch stärkere Repressionen gefolgt, so Politologe Nischnikow. Und "mit jedem dieser Ereignisse sind immer neue Widersacher beseitigt worden." Heute sei also niemand mehr da, der Putin Paroli bieten könnte.

Plakat mit einem kritisierten Putin-Zitat bei Rentenreform-Protest (in Moskau 2018)Bild: alnick/Depositphotos/IMAGO

Ein weiterer wichtiger Faktor für den Machterhalt von Putin sei die gezielte Schwächung der Gerichte in seiner zweiten Amtszeit, stellt Michail Komin fest. Die den Machthabern loyalen vorsitzenden Richter hätten mehr Macht gegenüber ihren untergeordneten Kollegen erhalten. Es seien immer mehr Richter aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis eingestellt worden und kaum welche aus dem Verteidigerbereich. "Ehemalige Gerichtssekretäre bekamen außerdem die Chance, Richter zu werden. Damit verloren die Gerichte ihre Unabhängigkeit."

Heute seien russische Gerichte deswegen nicht mehr unabhängig, kritisiert Komin. Sie könnten die Prozesse der staatlichen Repressionen gegenüber den Bürgern im Zweifelsfall verlangsamen, aber nicht mehr stoppen.

Dazu käme die Veränderung des Wahlsystems zugunsten von Wladimir Putin und seiner Regierungspartei "Einiges Russland". "Diese Veränderungen gab es mehrmals. Jetzt dominiert die Regierungspartei dank des Systems der Unterdrückung der Opposition, nicht dank der sozialen Themen, die in Putins ersten zwei Amtszeiten eine Rolle gespielt haben", urteilt der Politik-Experte.

Wahllokal in Rjasan bei russischer Präsidentenwahl (im März)Bild: Alexander Ryumin/TASS/IMAGO

Statt sich gegen die demokratische Opposition zu behaupten, habe Putin eine Art Schattenkabinett um sich herum geschaffen, meint der russische Soziologe Alexander Bikbow. Der Präsident habe in diesem engen Kreis Menschen versammelt, die mit ihm konkrete geschäftliche Interessen geteilt hätten. Ihre Firmen hätten große Staatsaufträge bekommen und sich dabei bereichert, so Bikbow: "Putin hält stets alle Zügel selbst in der Hand und ist persönlich geschäftlich involviert."

Manipulation des kollektiven historischen Gedächtnisses

Der Gesellschaft werde parallel dazu ein Bild von Russland verkauft, in dem der Staat im Laufe seiner ganzen Geschichte ausschließlich eine positive Rolle gespielt hätte. Alles Negative werde ausgeschaltet, alle Konflikte der Vergangenheit ausgelöscht, so Bikbow. Er nennt das "Manipulationen mit dem kollektiven historischen Gedächtnis." Sie würden Putins Macht ebenfalls nur stärken.

Soziologe Bikbow: "Putin hält stets alle Zügel in der Hand"Bild: Alexander Bikbow

Als Beispiel nennt der Soziologe die Schließung der KGB-Archive für die Öffentlichkeit, in denen "die dunklen Kapitel der russischen Geschichte" verzeichnet seien.

Bikbow nennt das Russland-Image unter Putin, der selbst KGB-Chef war, "das Bild des Goldenen Hahns" in Anlehnung an eine russische Märchenfigur. Der goldene Hahn bedeute "ein ausschließlich glückseliges Russland. Ein Land, das reichlich gezuckert ist. Ein Land, auf das man mit der rosaroten Brille schaut und in dem die Zarenfamilie etwa in einer Reihe mit dem kommunistischen Diktator Stalin seltsamerweise als Hüter derselben Traditionen dargestellt wird - obwohl beide in der russischen Geschichte vollkommen verschiede politische Kräfte repräsentierten."

Russland werde in diesem Bild als eine Gesellschaft mit traditionellen Werten dargestellt. Eine Gesellschaft, in der Konflikte mit der Obrigkeit verpönt, die bedingungslose Treue den Machthabern gegenüber dagegen als gegeben gepriesen sei.

Ende von Putins Herrschaft nicht absehbar

Politologe Nischnikow: "Niemand mehr da, der Paroli bieten könnte"Bild: privat

Alle drei von der DW befragten Experten sind sich darin einig, dass diese Tendenzen sich in der Zukunft verstärken würden und Putin lange an der Macht bleibe. "Das Problem ist, dass es keinen alternativen Kandidaten gibt und auch keinen Platz für ihn. Die letzten Wahlen, die Putin wirklich gewonnen hat, waren die Wahlen von 2004. Alles weitere war unfair", beklagt Michail Komin.

Putin sei zwar in diesem März für die nächsten sechs Jahre gewählt worden, schätzt der Experte, 2030 werde aber nicht das letzte Jahr seiner Präsidentschaft sein. "Ich denke, er wird noch eine weitere Amtszeit weitermachen. Seine Machtdauer sei nur auf sein physisches Alter beschränkt."

Auch Grigori Nischnikow bemängelt, dass die Russen für Putin keine Alternative sähen und eher Angst vor Veränderungen hätten: "Ok, sagen die Menschen, wir wollen, dass der Krieg vorbei ist, aber was kommt dann? Wenn Putin weg ist, kommen noch schlimmere Diebe an die Macht, die noch mehr das Land ausrauben werden. Das Image, das die Regierung pflegt, ist: Stabilität von heute ist wichtiger als Veränderungen von morgen."

Nischnikow bemerkt, dass es in Russland schon immer einen Bedarf nach einer starken Hand gegeben habe: "Eine starke Führungspersönlichkeit sollte schon immer Entscheidungen treffen und Probleme lösen. Im Zweifelsfall schimpfen die Russen auf die Gouverneure und nicht auf den Präsidenten, nach dem Motto: Wenn Putin das nur wüsste, würde er das Problem sofort lösen!" Das sei eine uralte russische Tradition.

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