1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Putins Atomwarnung - Drohkulisse oder mehr?

Volker Witting | Andreas Noll
21. September 2022

Der russische Präsident Wladimir Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Ist ein Atomschlag wahrscheinlich? Wie wären NATO und der Westen vorbereitet?

Atompilz Atomwaffe Nuklearwaffe Atombombe
Bild des Schreckens: Atomexplosion im Mururoa Atoll 1971 - wie wahrscheinlich ist ein Atomschlag Russlands?Bild: dpa/picture-alliance

Es ist die unverhohlene Kriegsrhetorik eines skrupellosen Kriegstreibers: "Ich möchte diejenigen, die solche Äußerungen über Russland machen, daran erinnern, dass auch unser Land über verschiedene Zerstörungsmittel verfügt, und in einigen Fällen sind sie moderner als die der NATO-Länder. Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu schützen."

Das hat Kremlchef Wladimir Putin am Mittwoch seinem Volk mitgeteilt – und der Welt. Dem Westen wirft der Präsident nukleare Erpressung vor. Und er lässt keine Zweifel an seiner Entschlossenheit: "Das ist kein Bluff. Und diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass sich die Wetterfahne drehen und auf sie zeigen kann."

Der Einsatz von Atomwaffen - keine neue Drohung

Präsident Putin hat in seiner Ansprache nicht nur dem Westen mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, sondern gleichzeitig auch die Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten angekündigt. "Seit dem Kriegsbeginn haben wir immer wieder solche Drohungen gehört, die als die Androhung von Nuklearwaffeneinsätzen interpretiert werden können", erläutert Oberst a.D. Wolfgang Richter im Gespräch mit der DW.

Der Experte für Sicherheitspolitik sagt: "Die Idee dahinter ist wohl die Botschaft an westliche Staaten: wenn ihr (der Westen) euch in den Krieg einmischt oder gar russisches Staatsgebiet angreift, dann wird der Nuklearschlag wahrscheinlicher."

In einem Interview mit der britischen BBC schließt Rose Gottemoeller nicht aus, dass Russland tatsächlich Atomwaffen zum Einsatz bringen könnte. Die ehemalige stellvertretende NATO-Generalsekretärin zeigt sich besorgt: "Ich befürchte, dass sie jetzt auf unvorhersehbare Weise zurückschlagen werden", warnte Gottemoeller. "Und zwar auf eine Weise, die sogar den Einsatz von Massenvernichtungswaffen beinhalten könnte", erläutert Gottemoeller weiter.

Russland besitzt weltweit größtes Atomwaffenarsenal

Sicherheitsexperte Richter sieht die Lage nicht ganz so dramatisch und verweist auf die russische Nukleardoktrin, die nur zwei Fälle für den Einsatz von Atomwaffen vorsieht: "Erstens, wenn Russland selbst durch Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen angegriffen wird. Und zum zweiten, wenn die Existenz und das Überleben des russischen Staates auf dem Spiel steht." Wenn Gebiete eines angegriffenen Staates annektiert und dann zum russischen Territorium erklärt werden, hätten solche Szenarien jedoch keine völkerrechtliche Substanz, so Richter.

Ukrainekrieg: Wie stark ist Putin unter Druck?

42:36

This browser does not support the video element.

Mit 6375 Sprengköpfen unterhält Russland das größte Atomwaffenarsenal weltweit. Von den NATO-Partnern besitzen die USA mit rund 5800 nuklearen Gefechtsköpfen die größte Nuklearstreitmacht. Frankreich soll über 290 Gefechtsköpfe verfügen, das Vereinigte Königreich über rund 215. Genaue Zahlen gibt es nicht - im Umfeld der Nuklearprogramme halten die Staaten viele Informationen unter Verschluss.

Auch wenn von einem "nuklearen Schutzschirm" der USA gesprochen wird, ließe sich ein Atomangriff auf Europa militärisch nicht verhindern. Der "Schutzschirm" basiert vielmehr auf der Annahme, dass ein Gegner einen Angriff mit Kernwaffen auf NATO-Staaten nicht wagen würde, weil er mit einem Gegenschlag rechnen müsste.

Eine solche militärische Antwort könnten alle NATO-Atommächte anordnen und ausführen: die USA, Großbritannien und Frankreich. Alle drei Staaten verfügen über strategische Atomwaffen, die unter anderem von Atom-U-Booten abgeschossen werden können und damit einen Gegenschlag in jedem denkbaren Szenario ermöglichen.

Wer entscheidet über den Einsatz von Atomwaffen?

Über den Einsatz der in Deutschland, Italien, Belgien und den Niederlanden lagernden US-Atomwaffen entscheidet zunächst der US-Präsident. Er würde die Bomben freigeben und das Stationierungsland (z.B. Deutschland) müsste dem Abwurf der Bomben durch eigene Kampfjets zustimmen. Vor einem solchen Einsatz würde es wahrscheinlich eine Konsultation mit den anderen NATO-Alliierten im Nordatlantikrat geben.

Über den Einsatz der französischen Nuklearstreitmacht entscheidet ausschließlich der französische Präsident - im Vereinigten Königreich liegt die Entscheidungsgewalt bei der britischen Premierministerin. Die drei Entscheidungszentren für Nuklearwaffen gelten als Element der Abschreckung, da sie dem Gegner die Kalkulation erschweren, wie die NATO bei einem Angriff genau reagieren würde.

Wie beteiligt sich Deutschland an der Abschreckung?

Deutschland beteiligt sich an der atomaren Abschreckung in Europa mit Tornado-Kampfflugzeugen der Luftwaffe, die im rheinland-pfälzischen Büchel stationiert sind. Die Jets mit deutscher Besatzung würden im Ernstfall US-Atomwaffen ins Ziel fliegen. Mindestens einmal im Jahr trainieren die Bundeswehr-Piloten den Abwurf der US-Atombomben mit Attrappen.

Der Pilot eines Tornado-Kampfflugzeugs in Büchel hält nach der Landung die Hände in die HöheBild: Rainer Jensen/dpa/picture-alliance

Neben Deutschland beteiligen sich auch die Niederlande, Belgien und Italien an der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO. Zwischen 100 und 150 für diese Flugzeuge zertifizierte und vergleichsweise unpräzise Schwerkraftbomben lagern Berichten zufolge aktuell in Europa.

Putins Drohungen mit Atomwaffen nicht neu

Schon seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 droht der russische Präsident immer wieder mit Atomwaffen. Wahrscheinlich wäre dann wohl ein Einsatz sogenannter taktischer Nuklearwaffen. Sie haben eine relative geringe Sprengkraft. Diese könnte auf eine sehr geringe Wirkung heruntergefahren werden, so dass ein Atomschlag in etwa einem Fünfzigstel der Sprengkraft einer Bombe entfalten würde, die Hiroshima zerstörte.

Doch dass es wirklich zu einem Atomschlag kommen könnte, bezweifelt Sicherheitsexperte Richter im Gespräch mit der DW. "Würde Russland das nukleare Tabu brechen, das seit 1945 besteht, wäre das Land außerdem in der ganzen Welt isoliert und geächtet. Putin würde alle Verbündeten verlieren, auch China. Dies hätte unabsehbaren Konsequenzen für das politische, ökonomische und gesellschaftliche Überleben der Russischen Föderation."

Oberst a.D. Wolfgang Richter, Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in BerlinBild: SWP

Einen Nuklearkrieg mit der NATO hält Richter daher für eher unwahrscheinlich. "Den kann Russland ja nicht gewinnen, sondern würde zur gegenseitigen Zerstörung führen. Ich glaube, so viel Rest an Rationalität ist sicher im Kreml noch da." ​​​​​​

Und vielleicht erinnert sich Wladimir Putin auch noch eine eindeutige Aussage des US-amerikanischen Präsidenten. In einem Fernsehinterview mit CBS vor einigen Tagen hatte Joe Biden Putin eindrücklich vor dem Einsatz von Nuklear- oder Chemiewaffen gewarnt: "Machen Sie das nicht! Es würde das Gesicht des Krieges verändern, wie nichts anderes seit dem Zweiten Weltkrieg."

Dieser Text basiert auf der früheren Fassung eines bereits erschienenen DW-Artikels.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen