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Politik

Keine Hoffnung auf Gerechtigkeit

29. Dezember 2017

Sie hofften auf Gerechtigkeit: Angehörige von Soldaten, die am Putschversuch in der Türkei beteiligt waren, sind entsetzt über ein Notstandsdekret der Regierung. Juristen befürchten staatlich gebilligte Lynchjustiz.

Türkei Bosphorus Brücke Panzer Kleidung und Helme von Soldaten
Bild: Getty Images/G.Tan

Regieren mit Notstandsdekreten: Dekret Nummer 696 der türkischen Regierung besagt, dass "Zivilisten, die sich dem Putschversuch am 15. Juli entgegengestellt haben und auch in der Zeit danach aktiv waren, gerichtlich nicht belangt werden" dürfen. Da in der Türkei seit dem Putschversuch im Juli 2016 der Ausnahmezustand gilt, haben solche Notstandsdekrete Gesetzeskraft.

Das Dekret stößt bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Widerstand. Besonders Oppositionsparteien und Juristen befürchten, das neue Dekret könnte zu einem Bürgerkrieg führen; auf der Basis des Dekretes könnten Todesschwadronen aufgestellt werden. Um diese Befürchtungen aus dem Weg zu räumen, ließ die Regierung wissen, das Dekret beschränke sich auf die Ereignisse vom 15. und 16. Juli 2016. Juristisch ist die Frage jedoch nicht abschließend geklärt.

Betroffen von dem Dekret sind vor allem Familien, die in der Putschnacht Angehörige verloren haben, die als Soldaten oder Kadetten im Einsatz waren. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 haben in der Türkei mehr als 180 Zivilisten ihr Leben verloren, die sich den Putschisten in den Weg gestellt haben. Davon sind 34 auf der Bosporus-Brücke umgekommen. Gleichzeitig sind auf der Brücke auch sieben Soldaten und Luftwaffenkadetten ums Leben gekommen.

Als nun bekannt wurde, dass die Täter ungestraft davonkommen sollen, war die letzte Hoffnung der Familien dahin, die seither für Gerechtigkeit gekämpft hatten. Unter den Betroffenen, die einen Sohn bei den Ausschreitungen auf der Brücke verloren hat, ist Familie Tekin.

"Sie haben unsere letzte Hoffnung vernichtet"

Der 21-jährige Murat Tekin war einer von zwei Luftwaffenkadetten, die am Morgen des 16. Juli 2016 auf der Brücke von Zivilisten gelyncht worden waren. Nach der Veröffentlichung des Dekrets am 24. Dezember erklärte seine Schwester Mehtap Tekin: "Dieser Paragraph des Dekrets hat uns ruiniert. Er hat uns unsere Zukunft genommen und unsere letzte Hoffnung vernichtet."

Der 21-jährige Kadett Murat Tekin wurde in der Nacht auf den 16. Juli 2016 von Putschgegnern umgebrachtBild: privat

Im DW-Gespräch erzählte Mehtap Tekin, ihr Bruder sei unter dem Vorwand, an einer Übung teilnehmen zu müssen, von seinen Vorgesetzten zur Brücke kommandiert worden. Man habe ihm eine Waffe in die Hand gedrückt und er sei, ohne auch nur eine Kugel abgefeuert zu haben, getötet worden.

Mehtap Tekin ist der Überzeugung, man müsse diejenigen, die an jenen Tagen mit friedlichen Absichten auf die Brücke gegangen waren, von denen mit gewalttätigen Plänen unterscheiden. "Wir sind nicht gegen alle Zivilisten. Die Menschen, die mit guter Absicht auf die Brücke gegangen sind, sollten beschützt werden. Aber es waren auch Mörder dort, und die sollte man ausfindig machen. Was wir wollen ist, dass die Mörder meines Bruders verurteilt werden", so Tekin.

Mehtap Tekin wohnt in Izmir und nahm nach dem 15. Juli selbst an Demonstrationen gegen den Putschversuch teil. "In dieser Zeit war mein Bruder verschwunden. Auch ich habe die Leute, die das gemacht haben, und die Panzer verflucht. Aber ich wusste natürlich nicht, dass mein Bruder mit dabei war."

"Wir konnten meinen Bruder kaum erkennen"

Am 26. Juli, elf Tage nach dem Putschversuch, erhielt Mehtap Tekin die Nachricht vom Tod ihres Bruders. Aus der Zeitung erfuhr sie, dass im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin nicht identifizierte Leichen von Soldaten lägen; mit ihren Eltern machte sie sich auf den Weg nach Istanbul. Es sei ihr schwergefallen, den entstellten leblosen Körper ihres Bruders zu identifizieren, erzählt sie.

"Er hatte einmal meiner Mutter und mir gesagt: 'Sollte ich als Märtyrer fallen, erkennt ihr mich an meinem Nagel'. Er hatte ein Mal an seinem Daumen. Von der Schulter aufwärts war er nicht mehr zu erkennen. Er hatte so starke Schläge und Schnittwunden erhalten, dass wir meinen Bruder kaum erkannten. Und letztlich erkannt haben wir ihn an seinem Daumennagel."

Mehtap Tekin (hier mit ihrem Bruder Murat) hat ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit verlorenBild: Privat

Der medizinische Bericht beschreibt die Todesursache für Murat Tekin mit den Worten "Schläge ins Gesicht und an den Hals, Wunden von scharfkantigen und bohrenden Geräten, Verletzungen am Hals, Mund, Nase".

Türkische Justiz unter Druck

Kübra Aydın ist die Anwältin der Familie Tekin. Gegenüber der DW erklärte sie, sie habe mindestens 15 Menschen identifiziert, die für den Tod von Murat Tekin in Frage kommen - entweder durch eigene Nachforschungen oder auf Videoaufnahmen.

"Wir haben die Namen dieser Menschen und ihre Personalausweisnummern an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Die hat aber nicht eine dieser Personen einbestellt. Man hat weder das von uns vorgelegte Filmmaterial angesehen, noch hat man sich den medizinischen Bericht durchgelesen", so Aydın. Man habe diese Menschen nicht einmal als Zeugen einbestellt.

Die Anwältin vermutet, dass die Staatsanwaltschaft politischen Druck von Seiten der Regierung vermeiden möchte und daher den Fall nicht untersucht. "Die Staatsanwälte sagen nun seit eineinhalb Jahren, dass sie nichts machen können. Dieses Dekret bestätigt sie jetzt darin. Das heißt, dass sie als Nächstes das Verfahren einstellen werden. Wir werden erst beim Strafgericht, dann beim Verfassungsgericht und dann beim Europäischen Gerichtshof  für Menschenrechte (EGMR) Widerspruch einlegen", so Aydın.

Insgesamt waren am 15. Juli 48 Kadetten aus der Ausbildungskompanie in Yalova auf der Brücke in Istanbul. Murat Tekin und Ragıp Enes Katran sind in der Putschnacht 2016 umgekommen; ihre 46 Kameraden stehen demnächst in Istanbul vor Gericht.

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