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Queere Opfer des Nationalsozialismus: lange vergessen

26. Januar 2023

Homosexuelle und andere LGBTQ-Minderheiten wurden beim Gedenken an Verfolgte und Ermordete Jahrzehnte ignoriert. Aber diese Zeiten sind vorbei.

An einer Mauer auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen befindet sich eine schlichte, graue Gedenktafel aus Metall mit der Inschrift "Totgeschlagen, totgeschwiegen - den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus"
An einer Mauer des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen wurde 1990 eine Gedenktafel angebracht Bild: Marcel Fürstenau/DW

"Nun bist Du schwule Sau ja Deine Eier los." Mit diesen Worten wurde Otto Giering im August 1939 nach seiner Zwangskastration im Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen von einem Aufseher verhöhnt. Schon vor seiner Deportation ins KZ war der 22-Jährige zweimal wegen homosexueller Kontakte verurteilt und in ein Arbeitslager gesteckt worden.

Die erschütternde Geschichte des aus Hamburg stammenden Schneidergesellen ist nachzulesen in dem Buch "Medizin und Verbrechen". Herausgeberin ist die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, zu der unter anderem die KZ-Gedenkstätte und das Museum Sachsenhausen gehören.

KZ-Opfer Otto Giering wurde nie entschädigt

Otto Giering überlebte die Torturen, seine Gesundheit war aber ruiniert: "Durch die KZ-Haft bedingt hatte er Herzbeschwerden, Magenprobleme, litt unter Kopfschmerzen und Migräne. Während er den Antrag auf Entschädigung einreichte, kamen die traumatischen Erlebnisse aus dem KZ wieder hoch. Als er die Ablehnung des Entschädigungsantrags erhalten hatte, kam er tagelang nicht nach Hause und wurde vermisst gemeldet. Die Polizei fand ihn verwirrt und orientierungslos auf."

Wenige Monate vor seinem 60. Geburtstag starb Otto Giering 1976. Er war einer von geschätzt 10.000 bis 15.000 schwulen Männern, die bis zum Ende der Nazi-Zeit 1945 in deutsche Konzentrationslager verschleppt wurden. Allein in Sachsenhausen waren es rund 1000, mehr als in jedem anderen KZ. Neben Juden, Sinti und Roma waren sie am stärksten den Misshandlungen der Wachmannschaften ausgeliefert.

Oft erschwerte Arbeitsbedingungen für Homosexuelle 

Männer mit dem stigmatisierenden rosa Winkel an der Häftlingskleidung wurden oft in Strafkommandos mit erschwerten Arbeitsbedingungen gesteckt. Darunter war das sogenannte Klinkerwerk – ein Außenlager Sachsenhausens, wo unter anderem Rüstungsgüter hergestellt werden mussten. 1942 wurden an diesem Ort systematisch 200 Schwule ermordet. Insgesamt sind mehr als 600 Todesfälle von homosexuellen Häftlingen in dem KZ nördlich von Berlin nachgewiesen.

Das Klinkerwerk war ein Außerlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen (Archivbild aus dem Jahr 2019) Bild: Jürgen Ritter/IMAGO

Obwohl das Schicksal schwuler Männer in der NS-Zeit tausendfach dokumentiert ist, erinnerte jahrzehntelang nichts und niemand an sie - zumindest öffentlich. In der Gedenkstätte Sachenhausen wurde erst nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands Anfang der 1990er Jahre eine Gedenktafel für diese Opfergruppe angebracht.        

Rosa Schleifen der West-Berliner Schwulenbewegung für KZ-Häftling

Dabei hat es schon zu Zeiten der deutschen Teilung erste Versuche des Gedenkens an die als Homosexuelle verfolgten Männer im KZ Sachsenhausen gegeben. Darauf weist Gedenkstätten-Sprecher Horst Seferens gegenüber der DW hin: Angehörige der West-Berliner Schwulenbewegung hätten Kränze mit rosa Schleifen niederlegt, die sofort vom Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) entfernt worden seien.

Auch in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald in der Nähe von Weimar wird inzwischen an homosexuelle Opfer erinnertBild: picture alliance / imageBROKER

"Inzwischen ist diese Opfergruppe, die seit 1993 auch im Beirat unserer Stiftung vertreten ist, in den Ausstellungen und in der sonstigen Arbeit der Gedenkstätte vielfältig präsent", betont Seferens. Die erst spät beginnende offizielle Erinnerung und moralische Rehabilitierung habe mehrere Gründe: Das hänge zum einen damit zusammen, dass praktizierte Homosexualität nach 1945 in beiden deutschen Staaten als Straftat galt, wobei die Liberalisierung in der DDR wesentlich früher eingesetzt habe als im Westen Deutschlands.

Andere Opfergruppen hatten lange Vorrang

Hinzugekommen sei, dass der Fokus auf bestimmten Opfergruppen gelegen habe, verweist Seferens auf Unterschiede zwischen Ost und West. "In der DDR waren es, ganz im Sinne der antifaschistischen Staatsdoktrin, die politischen Häftlinge und in der Bundesrepublik der konservative Widerstand und später die jüdischen Verfolgten."

2015 widmeten sich das Deutsche Historische Museum und das Schwule Museum in Berlin dem Thema Homosexualität und zeigten auch Fotos von Häftlingen im Vernichtungslager Auschwitz Bild: imago/epd

Jahrzehntelang seien viele andere Opfergruppen - als "Asoziale" Verfolgte, Sinti und Roma und eben auch Homosexuelle - vom Gedenken ausgegrenzt und finanzielle Entschädigungen verweigert worden. "Dies wirft ein Licht auf Kontinuitäten von Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen, die weit über das Jahr 1945 hinausreichen", fasst Seferens die lange Zeit des Schweigens und Verdrängens zusammen.  

Der Paragraph 175 stammt aus dem Jahr 1871

Die Wurzeln dieses gesellschaftlichen Klimas reichen sehr weit zurück. Schon lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 standen homosexuelle Handlungen unter Strafe, fixiert in Paragraph 175 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871, dem Jahr der ersten deutschen Reichsgründung. Als Teil der sogenannten "Straftaten gegen die Sittlichkeit" fiel unter anderem "widernatürliche Unzucht" zwischen Männern unter diesen Paragrafen.

Die Nazis verschärften 1935 die Strafvorschriften massiv und führten Paragraph 175a ein. Damit waren nicht mehr nur "beischlafähnliche Handlungen" verboten, sondern alle "unzüchtigen Handlungen" zwischen Männern. Auch lesbische Frauen wurden wegen ihrer "abweichenden" Sexualität denunziert und gerieten in den Blick der Polizei.

Lesbische Liebe war nur in Österreich verboten

Strafrechtlich blieben sie aber überwiegend verschont, weil homosexuelle Handlungen zwischen Frauen fast im gesamten Deutschen Reich nicht unter Strafe standen. Anders war die Situation nur in Österreich, das sich 1938 unter dem Jubel großer Teile der Bevölkerung Nazi-Deutschland anschloss und wo es juristisch keinen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität gab. 

Insgesamt ist das Schicksal lesbischer KZ-Insassinnen viel weniger erforscht als das schwuler Männer, da es keine gesonderte Häftlingskategorie für sie gab. Deshalb wurden sie mutmaßlich unter anderen Vorwänden in Konzentrationslager eingeliefert: als "Asoziale", Obdachlose, Prostituierte oder Frauen, die durch einen "unsittlichen Lebenswandel" auffielen.

Antisemitismus, Rassismus, Homophobie

Der Verfolgungsdruck nahm aber vor allem für Männer permanent zu. Nachdem die Nazis 1933 sofort alle Lokale der schwulen und lesbischen Subkultur dicht gemacht hatten, zerstörten sie noch im selben Jahr das 1918 von Magnus Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Ihr Zorn richtete sich aber nicht nur gegen einen Vorreiter der Schwulenbewegung, sondern zugleich gegen seinen jüdischen Glauben. An Magnus Hirschfeld lebten die Nazis alles auf einmal aus: Antisemitismus, Rassismus und Homophobie.

Im Berliner Regierungsviertel wurde 2008 ein Uferweg nach dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld benanntBild: Rainer Jensen/dpa/picture alliance

Im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Berlin 1936 gründeten die Nationalsozialisten die "Reichzentrale zu Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung". Mit Hilfe gesammelter Daten wurden vor allem Schwule gezielt verfolgt. Auf diese Weise wurden während der NS-Zeit rund 100.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet und etwa 50.000 Männer verurteilt.

Queere Opfer wurden erst 2002 rehabilitiert

Als der Nazi-Terror endete, blieb der verschärfte Paragraph 175 sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR in Kraft. Endgültig abgeschafft wurde er erst 1994, vier Jahre nach der Wiedervereinigung. Noch bis 2002 dauerte es, bis der Deutsche Bundestag die von Nazi-Richtern Verurteilten rehabilitierte. Die meisten waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (l.) und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey legen Kränze an der Gedenkstätte für homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus niederBild: Jens Kalaene/dpa/picture alliance

Als das Parlament am 27. Januar 2023, dem Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, allen Opfern der NS-Herrschaft gedachte, stand die Opfergruppe der verfolgten sexuellen Minderheiten im Mittelpunkt. Eine Premiere im Rahmen des seit 1996 stattfindenden Gedenkens im Bundestag.  

Kooperation mit dem Schwulen Museum

In der Gedenkstätte Sachsenhausen hat auf dem früheren KZ-Gelände erstmals 1995 ein schwuler Mann öffentlich über das Leiden der Homosexuellen gesprochen - auf der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Zur Jahrtausendwende präsentierten die Gedenkstätte und das Schwule Museum Berlin gemeinsam eine große Sonderausstellung zum gleichen Thema. Im Herzen Berlins erinnert seit dem Jahr 2008 in der Nähe des Bundestages ein Denkmal an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen.

Dik de Boef, Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, bei einem Besuch in der KZ-GedenkstätteBild: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Im September 2022 erinnerte der Präsident des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, Dik de Boef, an den 80. Jahrestag der Mordaktion gegen schwule Häftlinge im damaligen Konzentrationslager: "Gedenken ist nicht nur ein Rückblick, es geht nicht nur um die Vergangenheit, es spiegelt sich auch in der Gegenwart wider- also auch beim Stand der Stellung und der Rechte von Schwulen und Lesben, der LGBTQAI+ Community zur heutigen Zeit."

 

Dieser Artikel wurde am 26.01.2023 veröffentlicht und am 27.01.2023 aktualisiert. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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