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PolitikEuropa

Immer mehr queere Ungarn in Berlin

7. September 2022

Homophobie und Transfeindlichkeit sind in Viktor Orbans Ungarn Staatspolitik. Das treibt immer mehr LGBTQ-Menschen aus dem Land. Viele von ihnen suchen in Berlin eine neue Heimat.

Berlin Queere aus Ungarn
Gabor und Endre sind im Sommer 2022 von Budapest nach Berlin gezogen - und können sich hier in der Öffentlichkeit endlich an den Händen haltenBild: Krisztian Bocsi

In vielen EU-Ländern hat sich die Situation für LGBTQ-Menschen in den vergangenen Jahren gebessert - wenn auch oft nur sehr zögerlich. Anders in Ungarn. Dort sind Homophobie und Transfeindlichkeit inzwischen nicht nur Regierungspolitik, sondern auch Staatsideologie. In der Verfassung steht seit Ende 2020 - neben indirekt homophoben Passagen - der Satz: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ein Mann." Auch die Adoption von Kindern durch homosexuelle Paare ist praktisch verboten.

Plakat der ungarischen Regierung für ein homophobes Referendum im April 2022 mit der Aufschrift: "Schützen wir unsere Kinder!"Bild: Reviczky Zsolt

Seit Sommer 2021 steht gesetzlich sogar die "Darstellung oder Förderung" von Homosexualität und Geschlechtsumwandlung vor oder im Beisein von unter 18-Jährigen unter Strafe. Außerdem vermischt dieses Gesetz bewusst Pädophilie mit Homosexualität und Transidentität. Die DW hat queere Ungarn und Ungarinnen interviewt, die sich von dieser Politik der Regierung unter Viktor Orban erdrückt fühlten und nach Berlin auswanderten.

Bleiben oder gehen?

"Es war wie ein Tritt ins Gesicht, als dieses Gesetz 'zur Beschränkung der Information über Homo- und Transsexualität'‚ veröffentlicht wurde", erzählt der homosexuelle Film- und Theaterprofi Gabor (47)*, der mit seinem Partner Endre (37) im Juni 2022 nach Berlin zog, um hier ein neues Leben zu beginnen. "Viele queere Menschen brauchen Jahre, um sich aus ihrem Selbsthass herauszuarbeiten, dann kämpfen sie eine Weile darum, eigene Überlebensstrategien zu entwickeln. Wenn sie endlich an dem Punkt angelangt sind, an dem sie versuchen könnten zu leben, wird ihnen von oben herab auf den Kopf getreten. Das ist der Moment, in dem man sich entscheiden muss. Entweder lässt man sich zerquetschen oder man haut ab", sagt Gabor.

Gabor und Endre im Sommer 2022 in ihrer Berliner Wohnung. Ihre richtigen Namen wollen sie nicht veröffentlicht sehenBild: Krisztian Bocsi

Das ist leichter gesagt als getan. Nur wenige wissen das besser als die 43-jährige ungarische Transfrau Blanka Vay, die Budapest schon 2014 verließ - damals noch als verheirateter Mann. Für Blanka, die zuvor als Sprecher der Grünen Partei in Ungarn und als Kommunikationsleiter für Greenpeace gearbeitet hatte, stellte die größte Herausforderung nach der Auswanderung nicht die deutsche Bürokratie und nicht einmal das fehlende soziale Netzwerk dar.

Auch in Berlin kein leichter Start

"Der Grund für meinen unerwartet schweren Start ins neue Leben war eindeutig meine Transidentität", erklärt sie. "Berlin ist ein guter Ort für sexuelle Vielfalt aller Art. Aber die Geschlechtsumwandlung ist auch hier nicht einfach. Vor sechs Jahren, als ich mich als Transfrau outete, sprach ich bereits fließend Deutsch und hatte einen vielversprechenden Lebenslauf. Trotzdem fand ich anderthalb Jahre lang keine Arbeit. Weitere anderthalb Jahre habe ich als Fahrradkurier dahinvegetiert", erinnert sich Vay.

Blanka Vay bei der Vorstellung ihres autobiographischen Buches in Budapest im November 2021Bild: privat

Heute arbeitet sie als Geschäftsführerin einer Genossenschaft und ist trotz aller Schwierigkeiten dankbar, im toleranten Berlin zu sein. "Auch wenn ich in Budapest zur intellektuellen und moralischen Elite des Landes gehörte, wäre mein Netzwerk nicht stark genug gewesen, um mich zu schützen. Ich war entsetzt zu sehen, wie die Ungarn sich freiwillig mit den schrecklichsten Gräueltaten der Politik identifizieren und auf jene grundlegende intellektuelle Kontrolle verzichten, die ein vernünftiger Mensch durchführt, bevor er eine Idee verinnerlicht."

Spiel mit Menschenleben

Gabor hält Orbans homo- und transphobe Politik für nichts weniger als ein Spiel mit Menschenleben. Er hat Glück, denn als erfahrener Drehbuchautor und nach Abschluss seines Postgraduiertenstudiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie wird er in Berlin wahrscheinlich bald einen Job finden.

Demonstration gegen homophobe Gesetzgebung in Budapest im Juni 2021Bild: Reviczky Zsolt

Ein weiteres Glück im Unglück in der Auswanderungsgeschichte des ungarischen Paars ist, dass Gabors Ehepartner Endre einen auf dem internationalen Arbeitsmarkt sehr gefragten Beruf hat: Er ist Produktdesigner und fand in Berlin sofort eine Festanstellung. Das erleichterte dem Paar die Wohnungsanmietung.

Völlig allein gelassen

Anders sieht es für ein weiteres ungarisches Paar in Berlin aus: Viktor und Janos, die vor drei Monaten nach Berlin-Schöneberg gezogen sind. Der 48-jährige Viktor ist einer der vielen tausend ungarischen Intellektuellen, die ihr Land in den vergangenen Jahren aus politischen Gründen verlassen haben. Er hat nicht nur Besitz und Familie zurückgelassen, sondern sich auch aus der Budapester Kunstszene gelöst, die ein gewisser Halt für ihn war. Selbst seine sichere Anstellung in einer Budapester Kultureinrichtung gab er auf.

Homophobe Demonstranten in Budapest im Juni 2021. Auf dem Transparent steht: "Anderssein ist ekelhaft"

"Ich habe mich in Ungarn komplett allein gelassen gefühlt. Am meisten hat mich das Niveau der politischen Rhetorik erschreckt. Zum Beispiel lautete bei der Parlamentswahl in diesem Frühjahr einer der primitivsten Wahlslogans der Regierungspartei über die Oppositionsparteien: 'Sie sind gefährlich. Lasst sie uns stoppen!' Das ist Kommunikation auf Kindergartenniveau", begründet der Theaterprofi seine Entscheidung.

Queer = pädophil?

Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war auch für Viktor das "homophobe" Gesetz, das von der heterosexuellen Norm abweichende sexuelle Orientierungen und die Transidentität mit der psychischen Krankheit Pädophilie vermischt.

Homophobe Demonstranten in Budapest im Juni 2021Bild: Reviczky Zsolt

Außerdem findet er grotesk, dass die stark zensierten öffentlich-rechtlichen Sender seit einem Jahr pausenlos eine Botschaft verkünden: Ungarische Kinder müssten vor der sogenannten Gender-Lobby geschützt werden. Ministerpräsident Orban sagte kürzlich in einer Rede sogar, dass die größte Bedrohung für Ungarn nicht der Krieg im Nachbarland Ukraine darstelle, sondern die Migranten und "Gender".

Rechtlosigkeit als Alltag

"Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren kann. Warum verbitten sich Millionen von Ungarn nicht, von der Regierung auf so eine primitive Weise angesprochen zu werden?", fragt sich Viktor. "Warum lachen wir sie nicht aus und wählen sie ab?" Aber seine Enttäuschung über sein Heimatland kann seine Freude über sein Berliner Leben nicht überschatten.

Die großartigsten Erlebnisse für ihn und seinen Partner, den Musiklehrer Janos, sind immer wieder gemeinsame Spaziergänge durch die Stadt. "Wir sind seit 19 Jahren zusammen, und das ist das erste Mal, dass wir auf offener Straße händchenhaltend umherlaufen. Wir wären zwar in Budapest dafür nicht verprügelt worden. Aber es geht um den Seelenzustand der in Ungarn lebenden Schwulen. Man gewöhnt sich einfach an das Gefühl, nicht das Recht zu haben, Hand in Hand spazieren zu gehen."

* Geänderter Name, realer Name der Redaktion bekannt. Vier von fünf Gesprächspartnern der DW - Gabor, Endre, Viktor und Janos - die bereit waren, sich für diesen Artikel interviewen zu lassen, baten darum, ihre richtigen Namen nicht zu veröffentlichen.