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Quo vadis offene Gesellschaft?

5. April 2020

Geschlossene Schulen, Reise- und Kontaktverbote. Um die Corona-Pandemie einzudämmen, schränkt der Staat die Freiheiten seiner Bürger ein. Wie lange geht das gut? Und: Was kommt nach der Krise?

Berlin | Coronavirus: Pariser Platz
Bild: Getty Images/M. Hitij

Wir geben uns nicht mehr die Hand, verbergen unser Gesicht hinter einer Schutzmaske und gehen uns aus dem Weg. Im Kampf gegen das Coronavirus sind derzeit viele Regeln außer Kraft gesetzt. Opfert der Staat unsere Freiheitsrechte? Je länger die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gelten, desto lauter tönt der Streit darüber, wie gerechtfertigt diese sind. Gewiss ist nur: Das Coronavirus kann tödlich sein und breitet sich immer weiter aus. Gegenmittel und Impfung lassen auf sich warten.

Einer "vorschnellen Exit-Debatte" erteilte zwar unlängst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder eine Absage. Und Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann versprach, mit dem Ende der Corona-Krise würden die Freiheitsrechte "radikal wieder hergestellt - so wie es vorher war." Doch ließ sich Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts in der Süddeutschen Zeitung auch schon mit der Befürchtung vernehmen: Sollten sich die "extremen Eingriffe in die Freiheit aller" noch lange hinziehen, so drohe eine "Erosion des Rechtsstaates". Politik und Verwaltung müssten immer wieder prüfen, ob weniger einschneidende Maßnahmen möglich seien.

Legislative und Judikative müssen wachsam sein

Eine solche Abwägung fordert auch der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, zumal mit Blick auf die ökonomischen und sozialen Folgen. Viele Bürgerinnen und Bürger hätten verstanden und eingesehen, dass Appelle allein nicht genügten. Zum Schutz des Gemeinwohls müsse der Staat mit seinen ordnungspolitischen Instrumentarien handeln. "Wenn er das gut begründet und nicht auf Dauer anlegt, dann geht das", so Overbeck im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Gleichzeitig braucht es eine wachsame Legislative, auch eine wachsame Judikative, damit die Politik weiß, wann sie die Beschränkungen aufzuheben hat." Er habe aber den Eindruck, dass die demokratischen Institutionen in der Krise funktionierten, so der katholische Bischof.

Bischof Franz-Josef OverbeckBild: picture-alliance/dpa

Von der "Handlungsfähigkeit der Demokratie" sprach zuvor auch der Ratsvorsitzende der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm. Aus seiner Sicht werden die politischen Entscheidungsträger ihrer Verantwortung gerecht, lobte er im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk.

Noch scheint die Akzeptanz der Freiheitsbeschränkungen groß. Viele Menschen reagieren empathisch und solidarisch. "Alle Beschränkungen der Grundrechte müssen aber ein ganz klares Ablaufdatum haben", sagt Selmin Caliskan. Sie ist Direktorin für Institutionelle Beziehungen im Berliner Büro der Open Society Foundations. Die von dem Ungarn George Soros gegründete Stiftung setzt sich für Menschenrechte ein. Sie unterstützt Organisationen wie die "Gesellschaft für Freiheitsrechte", "Correctiv" und "Finanzwende". Projektgelder fließen aber auch an das Berliner "Silbernetz", wo Mini-Jobber alte oder ärmere und deshalb von Wohnungsräumung bedrohte Menschen über Hotlines in verschiedenen Sprachen beraten werden. So erfolgreich, dass Heinsberg - der deutsche Hotspot der Coronavirus-Ausbreitung - den Berliner Verein um Hilfe gebeten hat.

Deutschland - Vorbild in der Krisenbewältigung?

Überhaupt wirke die Corona-Krise "wie ein Brennglas auf die Stellen, die zuvor schon im Argen lagen", sagt Caliskan, die zuvor Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland war. "Es fällt auf, dass es große Rettungsaktionen für die Wirtschaft, für Unternehmer, Kleinunternehmer oder für den Gesundheitssektor gibt", so Caliskan. Und gewiss könne Deutschland für andere Staaten ein Vorbild sein im Umgang mit der Epidemie. "Aber wo bleibt der Rettungsschirm für den zivilgesellschaftlichen Sektor?"

Selmin CaliskanBild: Open Society Foundations

In diesem Gesellschaftsbereich, wo nach Caliskans Angaben knapp vier Millionen Sozialversicherungspflichtige tätig sind und noch einmal rund 600.000 Ehrenamtliche, werde dringend Hilfe benötigt. So gebe es etwa viel zu wenige Plätze in Frauenhäusern, wo bedrohte Frauen Schutz vor häuslicher Gewalt finden. "Über den seit Jahren herrschenden Pflegenotstand muss ich wohl nichts sagen", so Caliskan.

Dass in der Krise ausgerechnet prekär Beschäftigte als systemrelevant gelten, wundert Alexander Carius nicht. Der Politikwissenschaftler leitet die Berliner Denkfabrik "adelphi", die sich vor allem mit globalen Transformationsprozessen befasst, und zählt zu den Gründern der"Initiative Offene Gesellschaft". Die Arbeitsbedingungen von Kassiererinnen und Pflegern seien schon immer wenig wertgeschätzt worden. "Die waren schon vor der Krise unsozial und schlecht, was sich in Arbeitsbedingungen und Bezahlung ausdrückt."

Rückkehr in die Normalität?

An eine Rückkehr Deutschlands vom Krisenmodus in eine Normalität, wie sie vor der Krise herrschte, glaubt der Politologe nicht. "Wir werden neu definieren müssen, was das Normale eigentlich ist", sagt Carius. In Zukunft werde vieles, was unser bisheriges Leben ausmachte - Mobilität, Konsum von Gütern, die Möglichkeit, in andere Staaten und Städte zu reisen - möglicherweise nicht mehr in diesem Umfang möglich sein. "Rückkehr zur Normalität heißt ja nicht, dahin zurückzukehren, was eigentlich nicht funktioniert", so Carius, "wir haben eine Schere, die immer weiter auseinander geht - zwischen wohlhabenden, einkommensstarken Haushalten und ärmeren Haushalten, die massive Überlebensschwierigkeiten haben." Ob bei Bildung, Kultur oder einer Auskömmlichkeit des Lebens: "Die Frage der Solidarität in der deutschen Gesellschaft hat sich auch schon vor der Krise gestellt."

Politikwissenschaftler Alexander CariusBild: Kai Abresch Photography

"Meistens wollen die Menschen nach einer Krise am liebsten ganz, ganz schnell zur Normalität zurückkehren", sagt auch Selmin Caliskan von Open Society. "Ich weiß nicht, ob ich das will!" Mit der gleichen Anstrengung, wie die Corona-Krise bekämpft werde, müssten auch das Klima gerettet und das ungerechte Wirtschaftssystem verändert werden. Menschen, die jetzt in der Pflege unter Lebensgefahr Hilfe leisteten, müssten anständige Löhne und Arbeitsbedingungen bekommen, Kindergärtnerinnen ebenso. Obdachlose und Geflüchtete müssten eine Chance auf ein würdevolles Leben bekommen. "Es darf nicht sein, dass diese Krise auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird", sagt Caliskan.

Die Corona-Krise als Chance

Zudem bietet die Corona-Krise nach Einschätzung von Politikberaters Carius auch Chancen. Denn wie sollte die Welt nach Corona aussehen? "Solidarischer, gerechter, naturverträglicher, klimagerechter, resilienter gegenüber externen Schocks, ob das klimabedingte Schocks sind, ob das Pandemien sind, massive wirtschaftliche Einbrüche oder das Implodieren des Finanzsystems", sagt Carius. "Gerade Krisenzeiten erlauben ein Umsteuern." 

Die Politik müsse jetzt "die Zukunft gestalten" statt reaktiv im Krisenmodus genau diejenigen Branchen zu erhalten, die man ja eigentlich umbauen will, ob das die Automobilbranche oder Energiewirtschaft ist. Insgesamt müsse die Produktion klimafreundlicher und nachhaltiger werden.

Der Weg einer sozial-ökologischen Transformation werde aber nicht konfliktfrei sein, so Alexander Carius, ganz im Gegenteil. "Da stehen uns massive Verteilungskämpfe, die Umverteilung von Vermögen und Einkommen bevor, global wie national." Die erste Konfliktlinie werde wohl sein, den Eingriff in die Freiheits- und Bürgerrechte wieder auf ein erträgliches Maß zurückzufahren. "Das, was wir momentan als angemessen empfinden, kann in einer offenen Gesellschaft dauerhaft nicht funktionieren."

Den Aspekt der Generationengerechtigkeit unterstreicht der Kirchenmann Overbeck. "Momentan spielt die Ökologie in den Diskussionen eine untergeordnete Rolle. Der Fokus liegt auf der Ökonomie, obwohl beides zusammengehört." Diese Gewissheit gelte es am Ende der Krise wiederzuentdecken. In der Corona-Pandemie eine Strafe Gottes zu sehen, davon will der Bischof jedenfalls nichts wissen.

Die Corona-App

01:49

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