1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Rätselraten um Tschetschenen-Mord

Roman Goncharenko | Mikhail Bushuev
26. August 2019

Ein Tschetschene aus Georgien wurde in Berlin - mutmaßlich von einem Mann aus Russland - erschossen. Sollte es sich bei der Tat um eine Abrechnung handeln, dürften zwei Kriege eine Rolle gespielt haben.

Polizei: Radfahrer soll Mann in Berlin-Moabit erschossen haben
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Ist es ein einfacher Mordfall, oder hat der Mord an einem tschetschenischen Asylbewerber in Berlin politische Hintergründe? Noch hat sich die Bundesanwaltschaft nicht in die Ermittlungen eingeschaltet, jedoch habe man "die Sache im Blick", teilte am Montag ein Sprecher auf dpa-Anfrage mit. Die für den Staatsschutz zuständige oberste Strafverfolgungsbehörde würde dann aktiv, wenn sie Hinweise auf eine "fremde Macht" hinter der Tat hätte. Medien spekulieren über eine mögliche Verwicklung russischer Geheimdienste.

Ein Mord wie im Film

Die Ereignisse am vergangenen Freitag in Berlin wirken wie aus einem Film, in dem es um ehemalige tschetschenische Kämpfer, Auftragskiller und Rache geht. Die Realität ist hier nicht weniger spektakulär als Fiktion: Kurz vor Mittag wurde ein Passant in einer Parkanlage im Berliner Stadtteil Moabit von einem Radfahrer mit zwei gezielten Schüssen erschossen. Das Opfer ist ein 40-jähriger Asylbewerber tschetschenischer Abstammung aus Georgien. In einigen russischen und georgischen Quellen wird sein Name als Selimkhan K. angegeben, ebenfalls bekannt unter seiner zweiten Identität Tornike K.

Spurensicherung im Park: Berliner Polizeibeamte in MoabitBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Der mutmaßliche Täter konnte dank Zeugenhinweisen schnell gefasst werden. Er befindet sich in Untersuchungshaft und schweigt zu den Vorwürfen. Bekannt ist über ihn wenig. Nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen 49-Jährigen mit russischem Pass. Die russische Botschaft in Berlin teilte am Montag mit, man sei "im Kontakt" mit deutschen Ermittlungsbehörden. Die Polizei fand im Fluss nicht weit vom Tatort das mutmaßliche Fluchtfahrrad, eine Perücke und die mutmaßliche Tatwaffe, eine Pistole der Marke Glock 26, Kaliber 9 mm. 

Wer war Selimkhan K.?

Das Bild des Opfers, das sich aus verschiedenen Quellen zusammenstellen lässt, ergibt Hinweise auf mögliche Motive. Selimkhan K. lebte seit 2016 in Deutschland. Er stammt aus dem georgischen Pankisi-Tal an der Grenze zu der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus. Diese schwer zugängliche Bergregion war Schauplatz im zweiten Tschetschenien-Krieg, der 1999 begonnen und rund ein Jahrzehnt gedauert hatte. Kämpfer der tschetschenischen Separatisten, aber auch islamistische Terroristen haben sich dort vor russischen Truppen versteckt.

Separatistenführer im zweiten Tschetschenienkrieg: Schamil Bassaev (m.) und Abu Al Valid (2.v.r.)Bild: Getty Images/AFP/Stringer

Selimkhan K. soll damals auf der Seite der Separatisten gegen Russland gekämpft haben. "Während des zweiten Tschetschenien-Krieges kämpfte er zunächst unter Schamil Bassaev, dann unter dem arabischen Anführer Abu Valid", heißt es in einem Brief des Vorsitzenden des Berliner Vereins "Deutsch-Kaukasische Gesellschaft", Ekkehard Maaß, an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Der Brief aus dem Jahr 2017 liegt der DW vor. Der berüchtigte tschetschenische Warlord Bassaev und der in Saudi-Arabien geborene Valid wurden von russischen Einheiten getötet. In seinem Brief an BAMF erwähnt Maaß auch den russisch-georgischen Krieg im August 2008. Selimkhan K. habe damals eine Gruppe "von 200 Freiwilligen zur Verteidigung Georgiens in Südossetien" aufgestellt, die jedoch nicht zum Einsatz gekommen sei.

Schließlich berichten viele Medien, Selimkhan K. habe mit dem georgischen Innenministerium zusammengearbeitet und etwa bei einer Geiselnahme 2012 als "Vermittler" agiert.

Kein Einzelfall

Maaß beschreibt Selimkhan K. als seinen "Freund", der "weder ein islamistischer Gefährder noch ein Terrorist" gewesen sei. In einigen Medien heißt es, deutsche Behörden hätten ihn zunächst als gefährlichen Islamisten eingestuft, diese Einstufung später jedoch aufgehoben. Maaß hatte in einem Brief an  das BAMF um Schutz für Selimkhan K.  gebeten, da dieser auch in Deutschland "Drohnachrichten per SMS und WhatsApp" erhalten habe und es in der Vergangenheit Anschläge auf ihn gab, zuletzt 2015 in Tiflis.

Rache für einen Vorfall im zweiten Tschetschenien-Krieg? Kämpfer im Jahr 1996 (Archivbild)Bild: Getty Images/AFP/O. Nikishin

Sollte sich der Verdacht eines Auftragsmords bestätigen, wäre das zwar ein Präzedenzfall für Deutschland, aber eine Fortsetzung einer weltweiten Tendenz. 2009 wurde in Wien der tschetschenische Flüchtling Umar Israilow, auch er ehemaliger Kämpfer im Tschetschenien-Krieg, auf offener Straße erschossen. Verurteilt wurden drei Tschetschenen, die in Österreich lebten. Zuvor wurden einige prominente tschetschenische Kämpfer in der Türkei und in der Golf-Region getötet. Auch Ekkehard Maaß schätzt den Mord an Selimkhan K. gegenüber der DW als Tat aus einer Reihe mit anderen ähnlichen Fällen ein.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen