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Politik

Rückschlag für Friedensprozess in Afghanistan

Waslat Hasrat-Nazimi | Hans Spross
14. Mai 2020

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) stellt nach dem Angriff auf eine Geburtsstation ihre Arbeit in Kabul vorübergehend ein, will aber ihre übrigen Aktivitäten im Land fortführen.

Afghanistan Anschlag auf Krankenhaus in Kabul
Bild: Reuters/M. Ismail

Nach dem Anschlag auf eine Klinik in Kabul und die dortige Entbindungsabteilung sieht sich die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) gezwungen, ihre Tätigkeit in dieser von ihr betriebenen Abteilung vorübergehend einzustellen. "Eine harte aber notwendige Entscheidung", sagt Larissa Alles, MSF Advocacy Manager in Kabul, gegenüber der DW. Die Abteilung sei für die Bedürfnisse von Frauen mit komplizierten Geburten und von Neugeborenen mit speziellen Anforderungen eingerichtet.

Der Bezirk Dascht-e Barchi, wo sich das Krankenhaus mit der von MSF betriebenen Geburtenabteilung befindet, sei einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile von Kabul, sagt Larissa Alles. Sie verweist auf die hohe Mütter- wie auch Neugeborenen-Sterblichkeit in Afghanistan. Erstere betrage 638 pro 100.000 Lebendgeburten, letztere 37 pro 1000 Lebendgeburten. Zum Vergleich: In Westeuropa bewegten sich die entsprechenden Werte im einstelligen Bereich. Dies zeige die Bedeutsamkeit von Geburtsabteilungen, wie sie MSF in Kabul betreibt.

Ärzte ohne Grenzen versorgt unter anderem unterernährte KinderBild: picture-alliance/Zumapress/M. Satkin

"Solidarität mit Afghanen"

"Wir haben bei dem Angriff eine Reihe von Patienten verloren", sagt Larissa Alles im DW-Interview. Auch eine Hebamme, die in der Geburtsabteilung gearbeitet habe, sei bei dem Angriff ums Leben gekommen, so Alles. Man habe die überlebenden Patienten in benachbarte Krankenhäuser und die Mitarbeiter in Sicherheit gebracht. Das medizinische Team von MSF kümmere sich jetzt mit Priorität um die Neugeborenen und Mütter sowie um psychologische Unterstützung für Mitarbeiter und Angehörige von Opfern des Anschlags.

Larissa Alles stellte auch klar: "Wir führen unsere Aktivitäten im Rest des Landes weiter. Wir halten an der Solidarität mit dem afghanischen Volk gerade nach dieser Gräueltat fest." Die MSF-Sprecherin führte dazu weitere Projekte in den Provinzen aus: "In Kandahar behandeln wir multiresistente Tuberkulose. In Herat betreiben wir ein Krankenhaus. Dort werden unterernährte Binnenflüchtlinge, vor allem Kinder, versorgt. In Chost betreiben wir eine weitere große Geburtsklinik, außerdem unterstützen wir das staatliche Krankhaus des Gesundheitsministeriums in Helmand."

Spezialeinheit erreichte das Krankenhaus nach Zeugenaussagen erst "eine bis zwei Stunden später"Bild: Reuters/M. Ismail

"Wir haben meine Frau begraben"

Ein Mann namens Kazem aus dem Bezirk Dascht-Barchi hat seine Frau bei dem Anschlag verloren. Sie hatte in der Klinik entbunden. Die DW erreichte Kazem telefonisch. Das Interview muss er immer wieder unterbrechen, weil ihm die Tränen kommen: "Ich war im Krankenhaus, als der Anschlag stattfand. Ich war gekommen, um nach meiner Frau zu sehen. Als die Männer das Gebäude stürmten, haben die Polizisten nichts unternommen, sondern sind geflüchtet", sagt er.

"Erst eine bis zwei Stunden später kam die Spezialeinheit. Später wurden die Mütter und Kinder in andere Kliniken gebracht. Ich habe dann alle möglichen Krankenhäuser abgesucht, weil ich nicht wusste, wo meine Frau liegt. Dann habe ich erfahren, dass sie tot ist. Wir haben meine Frau begraben und nun bin ich hier mit dem Baby, das den Anschlag überlebt hat. Wir haben Familie und Bekannte, die sich nun kümmern. Meine Schwester kümmert sich auch."

Afghanistans Präsident Ghani: Taliban stünden hinter dem AnschlagBild: Government of Afghanistan

Skepsis gegenüber Erklärungen aus Kabul

Präsident Ghani hatte sogleich die Taliban als Täter des Terrorangriffs genannt und als Antwort die Wiederaufnahme militärischer Operationen angekündigt. Man solle diese Feststellung aber mit Vorsicht genießen, glaubt Afghanistan-Experten Andrew Watkins von der International Crisis Group. "Das war eine politische Erklärung. Die Öffentlichkeit verlangte irgendeine Reaktion. Tatsächlich hat die afghanische Armee schon vor den Anschlägen vom Dienstag ihre militärischen Operationen allmählich verstärkt. Und die Zuordnung der Schuld durch die Regierung erfolgte binnen einer Stunde ohne eine offizielle Untersuchung."

Was die von der afghanischen Regierung seit neuestem behauptete "tiefe und enge Verbindung" zwischen den Taliban beziehungsweise dessen "Haqqani-Netzwerk" und dem anderen Terrornetzwerk "Islamischer Staat" (IS) betrifft, so mahnt Watkins auch hier zu großer Skepsis. In den Jahren 2014/15 mag der IS eine gewisse Attraktivität für einige Taliban gehabt haben. Aber "die Führung der Taliban hat den IS mit immensem Einsatz von Menschen und Ressourcen bekämpft, um beim Widerstand gegen die Kabuler Regierung die Oberhoheit zu behaupten."

Friedensprozess nicht tot

Es sei noch zu früh, den Friedensprozess für gescheitert zu erklären, meint Watkins. "Eine sorgfältige Analyse der Erklärung von Präsident Ghani, wie auch der verschiedenen Äußerungen von Seiten der Taliban nach dem Anschlag, zeigt, dass sich keine der beiden Seiten jetzt klar gegen ein späteres Treffen zu Gesprächen positioniert. Die USA üben Einfluss auf beide Seiten mit starken Lock- und Druckmitteln aus, so dass keine als diejenige erscheinen will, die die Tür zu einer Friedenslösung zugeschlagen hat."