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#MuteRKelly: Was bringt digitaler Protest?

Marlon Jungjohann
23. September 2021

Der Prozess im Fall R. Kelly steht kurz vor dem Ende. Das Netz verlangte: #MuteRKelly! Über die Mechanismen und den Nutzen digitaler Protestbewegungen.

Porträt von US-Sänger R. Kelly.
R. Kelly bei einer gerichtlichen Anhörung im März 2019Bild: Erin Hooley/Chicago Tribune/TNS/picture alliance

Im Prozess um R. Kelly haben die Schlussplädoyers begonnen. "Lügen, Manipulation, Drohungen und körperlichen Missbrauch" habe R. Kelly über Jahrzehnte hinweg eingesetzt, um sich ungestraft sexuell an Frauen und Minderjährigen zu vergehen, erklärte Staatsanwältin Elizabeth Geddes am Mittwoch (22.09.2021). Kelly habe einen ganzen Ring an Unterstützern, die für ihn systematisch Opfer rekrutierten und ihn schützten. "Ohne sie hätte der Angeklagte sein Verbrechensmuster nicht fast drei Jahrzehnte lang ausüben können", so Geddes weiter.

Kelly weist alle Vorwürfe zurück und plädiert auf nicht schuldig. Er selbst wollte sich am Mittwoch nicht äußern. 

45 Zeuginnen und Zeugen, darunter mutmaßliche Opfer, hatten in den vergangenen fünf Wochen gegen Kelly ausgesagt. Bis Montag hatte die Verteidigung noch entlastende Aussagen durch Angestellte und einen Freund des Sängers vortragen lassen. Sobald die Schlussplädoyers abgeschlossen sind, entscheidet eine Jury aus zwölf Geschworenen, sieben Männern und fünf Frauen, wie es für den 54-Jährigen weitergeht. Wird Kelly verurteilt, droht ihm eine lebenslange Haftstrafe.

Protest im Internet - und darüber hinaus

Von der großen Bühne wird Kelly schon seit längerem verbannt: 2017 forderten Aktivistinnen und Aktivisten der Internetbewegung #MuteRKelly den Stopp seiner Konzerte in den USA. Sie riefen auch Radiosender dazu auf, Kellys Songs nicht länger zu spielen. Musik-Apps sollten den Interpreten aus ihren Listen entfernen. Ihr Ziel: Eine Solidarisierung mit den Betroffenen und ein Zeichen gegen sexualisierte Gewalt setzen.

Der Hashtag verfehlte seine Wirkung nicht - etliche Künstlerinnen und Künstler, darunter Lady Gaga, wandten sich von Kelly ab, seine Plattenfirma beendete die Zusammenarbeit und mittlerweile schlägt auch Spotify seine Songs den Nutzenden nicht mehr vor. Der Musiker ist im Internet sozusagen "annulliert" worden.

Digitale Boykottkampagnen wie diese sind ein Phänomen, das mittlerweile immer häufiger auftritt. Im englischen Sprachraum hat sich in dem Zusammenhang ein Ausdruck etabliert, der auch hierzulande längst geläufig ist: Cancel Culture.

"Die Öffentlichkeit ist heute sensibler"

"Die Sozialen Medien verschaffen uns die Möglichkeit, gemeinsam Dinge anzuprangern", erklärt Christoph Neuberger im DW-Interview. Als Professor am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin und Direktor des Weizenbaum-Instituts erforscht er digitale Streitkulturen. "Es ist eine Solidarisierung, die hier stattfindet." User und Userinnen könnten sich durch Netzwerke wie Twitter oder Facebook weltweit vernetzen, ihre Erfahrungen austauschen und gemeinsam Probleme anprangern.

Für eine solche Vernetzung ist neben #MuteRKelly die #MeToo-Bewegung beispielhaft. Weltweit teilen Opfer sexualisierter Gewalt, insbesondere Frauen, seit einigen Jahren über Soziale Medien ihre Erlebnisse und fordern eine öffentliche Anerkennung ihrer strukturellen sexistischen Unterdrückung im Alltag. Der Hollywood-Produzent Harvey Weinstein ist in diesem Zusammenhang einer der bekanntesten Täter. Seine Verbrechen gelangten an die Öffentlichkeit und machten ihn für die Filmindustrie unhaltbar.

Eine Vielzahl bekannter Schauspielerinnen und Schauspieler nahm auch von Woody Allen Abstand, nachdem im Zuge der #MeToo-Debatte die Vorwürfe des Missbrauchs an seiner Tochter wieder aufgerollt wurden.

Prof. Dr. Christoph NeubergerBild: Kay Herschelmann/Weizenbaum-Institut

Strukturelle Probleme, zu denen neben Missbrauch auch Rassismus, Juden- oder Homofeindlichkeit gehören, seien in den vergangenen Jahren auf eine höhere gesellschaftliche Resonanz gestoßen, so Neuberger: "Die Öffentlichkeit ist generell in wachsendem Maße sensibilisiert." Diese Entwicklung habe schon unabhängig vom Internet begonnen. Ab den 2000er-Jahren habe es jedoch einen Schub gegeben, "vor allem mit dem Aufkommen der Sozialen Medien."

Nicht nur Straftäter werden angeprangert

Neuberger zufolge, gehe es den Online-Communities bei ihren digitalen Protesten um soziale Gerechtigkeit und ein geschärftes Bewusstsein für marginalisierte Gruppen. Dabei lösen nicht nur Taten, wie solche, die R. Kelly vorgeworfen werden, Kontroversen aus. Immer öfter diskutieren Internet-Nutzerinnen und -Nutzer auch politische Äußerungen von Stars.

So hat sich etwa die "Harry-Potter"-Autorin J.K. Rowling nach Meinung vieler Fans wiederholt transfeindlich geäußert, als sie vergangenes Jahr per Twitter sarkastisch auf eine Formulierung in einem Artikel reagierte, in dem es um Möglichkeiten ging, Menstruationsartikel in ausreichenden Mengen während des Corona-Lockdowns zur Verfügung zu stellen: "Menschen, die menstruieren. Ich bin mir sicher, dass es dafür mal ein Wort gab. Kann mir jemand aushelfen?", twitterte die Autorin, die damit verkannte, dass auch non-binäre oder Transpersonen menstruieren können.

Daraufhin boykottierten unzählige Fans ihr einstiges Idol. Mit dem Hashtag "RIP J.K. Rowling" machten sie deutlich, dass sie den Erfolg der Bestsellerautorin als beendet ansahen. Rowling wehrte sich und war 2020 eine der prominentesten Personen, die den"Letter on Justice and Open Debate" unterzeichneten. Die 153 Beteiligten des Offenen Briefs beklagen darin, ein "Klima der Intoleranz" und des "Öffentlichen Anprangerns" beherrsche die Diskussionen. Jüngere Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft zwängten den öffentlichen Diskurs in eine "ideologische Konformität", eine solche Ächtung sei eine Zensur ihrer Meinungsäußerung. Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen und Künstler und Journalistinnen und Journalisten, die sich diesem Zwang nicht beugten, müssten ernsthaft um ihre Existenz fürchten, heißt es in dem Schreiben weiter. 

Zuhören und aufeinander eingehen sind entscheidend 

Prof. Dr. Gwen BouvierBild: privat

"Sobald Künstlerinnen und Künstler im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen, sobald sie als der Bösewicht markiert sind, ist eine reflektierte Debatte kaum noch möglich", meint dazu Gwen Bouvier, Kommunikationsprofessorin an der chinesischen Zhejiang-Universität. Die Debatten seien hochgradig emotionalisiert. "Man fühlt sich gut dabei, gemeinsam für eine Vorstellung von Gerechtigkeit zu kämpfen." Aber: "Die Rufe nach Canceln sorgen weniger für eine Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Problemen und konzentrieren bestehende Missstände vielmehr auf eine einzige Person", so Bouvier im DW-Gespräch. Die Öffentlichkeit schaffe einen Sündenbock, auf den sie zeigen und sich ihrer moralischen Überlegenheit versichern könne. "Leider, finde ich, folgt darauf aber wenig strukturelle Veränderung." Anstelle von symbolischen Handlungen müsse eine Diskussion entstehen, in der die Menschen einander zuhören und aufeinander eingehen. 

US-Schauspielerin Alyssa Milano ist auch als Aktivistin bekannt. Sie machte #MeToo mit groß.Bild: Getty Images/A. Wong

Missstände werden sichtbar

Dem Experten für Streitkultur, Christoph Neuberger, zufolge, gehe es vor allem darum, gemeinsam Empörung zu artikulieren und Werte auszuhandeln: "Es werden Diskurse geführt, innerhalb derer sich die Gesellschaft verständigt, was sie als akzeptabel und was sie als nicht akzeptabel betrachtet." Solche Auseinandersetzungen zielten darauf ab, Dinge "öffentlich und transparent zu machen."

Letzten Endes haben die Kontroversen um R. Kelly, Harvey Weinstein und Woody Allen bewiesen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit durchaus konkrete Auswirkungen hat. Missstände wurden durch Onlinekampagnen wie #MeToo oder #MuteRKelly auch in der realen Welt vermehrt diskutiert und gesehen - der erste Schritt, um strukturellen Sexismus abzubauen.

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